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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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sie zu dieser Erinnerung kommt? - Sie sprachen im Garten davon, dass es an einer Stelle so heiss sei, und da sei ihr die schattenlose Terrasse auf Rügen eingefallen. - Was für traurige Erinnerungen sie denn an den Aufenthalt in Rügen habe? - Sie bringt die Reihe derselben vor. Sie habe dort die furchtbarsten Arm- und Beinschmerzen bekommen, sei mehrmals bei Ausflügen in den Nebel gerathen, so dass sie den Weg verfehlt, zweimal auf Spaziergängen von einem Stier verfolgt worden u. s. w. - Wieso sie heute zu diesem Anfall gekommen? - Ja, wieso? Sie habe sehr viele Briefe geschrieben, drei Stunden lang und dabei einen eingenommenen Kopf bekommen. - Ich kann also annehmen, dass die Ermüdung diesen Anfall von Delirium herbeigeführt hat, dessen Inhalt durch solche Anklänge wie die schattenlose Stelle im Garten etc. bestimmt wurde. - Ich wiederhole alle die Lehren, die ich ihr zu geben pflege, und verlasse sie eingeschläfert.

17. Mai. Sie hat sehr gut geschlafen. Im Kleienbad, das sie heute nahm, hat sie mehrmals aufgeschrien, weil sie die Kleie für kleine Würmer hielt. Ich weiss dies von der Wärterin; sie mag es nicht gerne erzählen, ist fast ausgelassen heiter, unterbricht sich aber häufig mit Schreien "Huh", Grimassen, die das Entsetzen ausdrücken, zeigt auch mehr Stottern als je in den letzten Tagen. Sie erzählt, dass sie in der Nacht geträumt, sie gehe auf lauter Blutegeln. In der Nacht vorher hatte sie grässliche Träume, musste so viele Todte schmücken und in den Sarg legen, wollte aber nie den Deckel darauf geben. (Offenbar eine Reminiscenz an ihren Mann, s. o.) Erzählt ferner, dass ihr im Leben eine Menge von Abenteuern mit Thieren passirt seien, das grässlichste mit einer Fledermaus, die sich in ihrem Toiletteschrank eingefangen, wobei sie damals unangekleidet aus dem Zimmer lief. Ihr Bruder schenkte ihr darauf, um sie von dieser Angst zu curiren, eine schöne Broche in Gestalt einer Fledermaus; sie konnte dieselbe aber nie tragen.

In der Hypnose: Ihre Angst vor Würmern rühre daher, dass sie einmal ein schönes Nadelkissen geschenkt bekommen, aus welchem am nächsten Morgen, als sie es gebrauchen wollte, lauter kleine Würmer hervorkrochen, weil die zur Füllung verwendete Kleie nicht ganz trocken war. (Hallucination? Vielleicht thatsächlich.) Ich frage nach weiteren Thiergeschichten. Als sie einmal mit ihrem Manne in einem Petersburger Park spazieren ging, sei der ganze Weg bis zum Teich mit Kröten besetzt gewesen, so dass sie umkehren mussten. Sie habe Zeiten gehabt, in denen sie niemand die Hand reichen konnte aus

sie zu dieser Erinnerung kommt? – Sie sprachen im Garten davon, dass es an einer Stelle so heiss sei, und da sei ihr die schattenlose Terrasse auf Rügen eingefallen. – Was für traurige Erinnerungen sie denn an den Aufenthalt in Rügen habe? – Sie bringt die Reihe derselben vor. Sie habe dort die furchtbarsten Arm- und Beinschmerzen bekommen, sei mehrmals bei Ausflügen in den Nebel gerathen, so dass sie den Weg verfehlt, zweimal auf Spaziergängen von einem Stier verfolgt worden u. s. w. – Wieso sie heute zu diesem Anfall gekommen? – Ja, wieso? Sie habe sehr viele Briefe geschrieben, drei Stunden lang und dabei einen eingenommenen Kopf bekommen. – Ich kann also annehmen, dass die Ermüdung diesen Anfall von Delirium herbeigeführt hat, dessen Inhalt durch solche Anklänge wie die schattenlose Stelle im Garten etc. bestimmt wurde. – Ich wiederhole alle die Lehren, die ich ihr zu geben pflege, und verlasse sie eingeschläfert.

17. Mai. Sie hat sehr gut geschlafen. Im Kleienbad, das sie heute nahm, hat sie mehrmals aufgeschrien, weil sie die Kleie für kleine Würmer hielt. Ich weiss dies von der Wärterin; sie mag es nicht gerne erzählen, ist fast ausgelassen heiter, unterbricht sich aber häufig mit Schreien „Huh“, Grimassen, die das Entsetzen ausdrücken, zeigt auch mehr Stottern als je in den letzten Tagen. Sie erzählt, dass sie in der Nacht geträumt, sie gehe auf lauter Blutegeln. In der Nacht vorher hatte sie grässliche Träume, musste so viele Todte schmücken und in den Sarg legen, wollte aber nie den Deckel darauf geben. (Offenbar eine Reminiscenz an ihren Mann, s. o.) Erzählt ferner, dass ihr im Leben eine Menge von Abenteuern mit Thieren passirt seien, das grässlichste mit einer Fledermaus, die sich in ihrem Toiletteschrank eingefangen, wobei sie damals unangekleidet aus dem Zimmer lief. Ihr Bruder schenkte ihr darauf, um sie von dieser Angst zu curiren, eine schöne Broche in Gestalt einer Fledermaus; sie konnte dieselbe aber nie tragen.

In der Hypnose: Ihre Angst vor Würmern rühre daher, dass sie einmal ein schönes Nadelkissen geschenkt bekommen, aus welchem am nächsten Morgen, als sie es gebrauchen wollte, lauter kleine Würmer hervorkrochen, weil die zur Füllung verwendete Kleie nicht ganz trocken war. (Hallucination? Vielleicht thatsächlich.) Ich frage nach weiteren Thiergeschichten. Als sie einmal mit ihrem Manne in einem Petersburger Park spazieren ging, sei der ganze Weg bis zum Teich mit Kröten besetzt gewesen, so dass sie umkehren mussten. Sie habe Zeiten gehabt, in denen sie niemand die Hand reichen konnte aus

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          <p>17. Mai. Sie hat sehr gut geschlafen. Im Kleienbad, das sie heute nahm, hat sie mehrmals aufgeschrien, weil sie die Kleie für kleine Würmer hielt. Ich weiss dies von der Wärterin; sie mag es nicht gerne erzählen, ist fast ausgelassen heiter, unterbricht sich aber häufig mit Schreien &#x201E;Huh&#x201C;, Grimassen, die das Entsetzen ausdrücken, zeigt auch mehr Stottern als je in den letzten Tagen. Sie erzählt, dass sie in der Nacht geträumt, sie gehe auf lauter Blutegeln. In der Nacht vorher hatte sie grässliche Träume, musste so viele Todte schmücken und in den Sarg legen, wollte aber nie den Deckel darauf geben. (Offenbar eine Reminiscenz an ihren Mann, s. o.) Erzählt ferner, dass ihr im Leben eine Menge von Abenteuern mit Thieren passirt seien, das grässlichste mit einer Fledermaus, die sich in ihrem Toiletteschrank eingefangen, wobei sie damals unangekleidet aus dem Zimmer lief. Ihr Bruder schenkte ihr darauf, um sie von dieser Angst zu curiren, eine schöne Broche in Gestalt einer Fledermaus; sie konnte dieselbe aber nie tragen.</p>
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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/67>, abgerufen am 28.04.2024.