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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Abends. Sie ist sehr heiter, entwickelt überhaupt prächtigen Humor. Mit dem Lift sei es allerdings nicht so gewesen, wie sie mir gesagt hatte. Er sollte nur unter einem Vorwand nicht für die Fahrt abwärts benützt werden. Eine Menge Fragen, an denen nichts Krankhaftes ist. Sie hat peinlich starke Schmerzen im Gesicht, in der Hand längs der Daumenseite und im Bein gehabt. Sie fühle Steifigkeit und Gesichtsschmerzen, wenn sie längere Zeit ruhig gesessen sei oder auf einen Punkt gestarrt habe. Das Heben eines schwereren Gegenstandes verursache ihr Armschmerzen. - Die Untersuchung des rechten Beines ergibt ziemlich gute Sensibilität am Oberschenkel, hochgradige Anästhesie am Unterschenkel und Fuss, mindere in der Backen- und Lendengegend.

In der Hypnose gibt sie an, sie habe noch gelegentliche Angstvorstellungen, wie, es könnte ihren Kindern etwas geschehen, sie könnten

zeigen, dass man gerne die Begriffsbestimmung der letzteren erweitern und die Localisation des Schmerzes an die zweite Stelle drängen wollte. Wie bekannt pflegen viele neuropathische Frauen mit dem Migränanfall hysterische Anfälle (Zuckungen und Delirien) zu verbinden. So oft ich den Genickkrampf bei Frau Emmy sah, war auch jedesmal ein Anfall von Delirium dabei. Was die Arm- und Beinschmerzen angeht, so denke ich, dass hier ein Fall der nicht sehr interessanten, aber um so häufigeren Art der Determinirung durch zufällige Coincidenz vorlag. Sie hatte solche Schmerzen während jener Zeit der Aufregung und Krankenpflege gehabt, in Folge der Erschöpfung stärker als sonst empfunden, und diese, ursprünglich mit jenen Erlebnissen nur zufällig associirten Schmerzen wurden dann in ihrer Erinnerung als das körperliche Symbol des Associationscomplexes wiederholt. Ich werde von beweisenden Beispielen für diesen Vorgang in der Folge noch mehrere anführen können. Wahrscheinlich waren die Schmerzen ursprünglich rheumatische d. h., um dem viel missbrauchten Worte einen bestimmten Sinn zu geben, solche Schmerzen, die hauptsächlich in den Muskeln sitzen, bei denen bedeutende Druckempfindlichkeit und Consistenzveränderung der Muskeln nachzuweisen ist, die sich am heftigsten nach längerer Ruhe oder Fixirung der Extremität äussern, also am Morgen, die auf Einübung der schmerzhaften Bewegung sich bessern und durch Massage zum Verschwinden zu bringen sind. Diese myogenen Schmerzen, bei allen Menschen sehr häufig, gelangen bei den Neuropathen zu grosser Bedeutung; sie werden von ihnen mit Unterstützung der Aerzte, die nicht die Gewohnheit haben, die Muskeln mit dem Fingerdruck zu prüfen, für nervöse gehalten und geben das Material für unbestimmt viele hysterische Neuralgien, sogenannte Ischias u. dgl. ab. Auf die Beziehungen dieses Leidens zur gichtischen Disposition will ich hier nur kurz hinweisen. Mutter und zwei Schwestern meiner Patientin hatten an Gicht (oder chronischem Rheumatismus) im hohen Grade gelitten. Ein Theil der Schmerzen, über welche sie damals klagte, mochte auch gegenwärtiger Natur sein. Ich weiss es nicht; ich hatte damals noch keine Uebung in der Beurtheilung dieses Zustandes der Muskeln.

Abends. Sie ist sehr heiter, entwickelt überhaupt prächtigen Humor. Mit dem Lift sei es allerdings nicht so gewesen, wie sie mir gesagt hatte. Er sollte nur unter einem Vorwand nicht für die Fahrt abwärts benützt werden. Eine Menge Fragen, an denen nichts Krankhaftes ist. Sie hat peinlich starke Schmerzen im Gesicht, in der Hand längs der Daumenseite und im Bein gehabt. Sie fühle Steifigkeit und Gesichtsschmerzen, wenn sie längere Zeit ruhig gesessen sei oder auf einen Punkt gestarrt habe. Das Heben eines schwereren Gegenstandes verursache ihr Armschmerzen. – Die Untersuchung des rechten Beines ergibt ziemlich gute Sensibilität am Oberschenkel, hochgradige Anästhesie am Unterschenkel und Fuss, mindere in der Backen- und Lendengegend.

In der Hypnose gibt sie an, sie habe noch gelegentliche Angstvorstellungen, wie, es könnte ihren Kindern etwas geschehen, sie könnten

zeigen, dass man gerne die Begriffsbestimmung der letzteren erweitern und die Localisation des Schmerzes an die zweite Stelle drängen wollte. Wie bekannt pflegen viele neuropathische Frauen mit dem Migränanfall hysterische Anfälle (Zuckungen und Delirien) zu verbinden. So oft ich den Genickkrampf bei Frau Emmy sah, war auch jedesmal ein Anfall von Delirium dabei. Was die Arm- und Beinschmerzen angeht, so denke ich, dass hier ein Fall der nicht sehr interessanten, aber um so häufigeren Art der Determinirung durch zufällige Coincidenz vorlag. Sie hatte solche Schmerzen während jener Zeit der Aufregung und Krankenpflege gehabt, in Folge der Erschöpfung stärker als sonst empfunden, und diese, ursprünglich mit jenen Erlebnissen nur zufällig associirten Schmerzen wurden dann in ihrer Erinnerung als das körperliche Symbol des Associationscomplexes wiederholt. Ich werde von beweisenden Beispielen für diesen Vorgang in der Folge noch mehrere anführen können. Wahrscheinlich waren die Schmerzen ursprünglich rheumatische d. h., um dem viel missbrauchten Worte einen bestimmten Sinn zu geben, solche Schmerzen, die hauptsächlich in den Muskeln sitzen, bei denen bedeutende Druckempfindlichkeit und Consistenzveränderung der Muskeln nachzuweisen ist, die sich am heftigsten nach längerer Ruhe oder Fixirung der Extremität äussern, also am Morgen, die auf Einübung der schmerzhaften Bewegung sich bessern und durch Massage zum Verschwinden zu bringen sind. Diese myogenen Schmerzen, bei allen Menschen sehr häufig, gelangen bei den Neuropathen zu grosser Bedeutung; sie werden von ihnen mit Unterstützung der Aerzte, die nicht die Gewohnheit haben, die Muskeln mit dem Fingerdruck zu prüfen, für nervöse gehalten und geben das Material für unbestimmt viele hysterische Neuralgien, sogenannte Ischias u. dgl. ab. Auf die Beziehungen dieses Leidens zur gichtischen Disposition will ich hier nur kurz hinweisen. Mutter und zwei Schwestern meiner Patientin hatten an Gicht (oder chronischem Rheumatismus) im hohen Grade gelitten. Ein Theil der Schmerzen, über welche sie damals klagte, mochte auch gegenwärtiger Natur sein. Ich weiss es nicht; ich hatte damals noch keine Uebung in der Beurtheilung dieses Zustandes der Muskeln.
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[59/0065] Abends. Sie ist sehr heiter, entwickelt überhaupt prächtigen Humor. Mit dem Lift sei es allerdings nicht so gewesen, wie sie mir gesagt hatte. Er sollte nur unter einem Vorwand nicht für die Fahrt abwärts benützt werden. Eine Menge Fragen, an denen nichts Krankhaftes ist. Sie hat peinlich starke Schmerzen im Gesicht, in der Hand längs der Daumenseite und im Bein gehabt. Sie fühle Steifigkeit und Gesichtsschmerzen, wenn sie längere Zeit ruhig gesessen sei oder auf einen Punkt gestarrt habe. Das Heben eines schwereren Gegenstandes verursache ihr Armschmerzen. – Die Untersuchung des rechten Beines ergibt ziemlich gute Sensibilität am Oberschenkel, hochgradige Anästhesie am Unterschenkel und Fuss, mindere in der Backen- und Lendengegend. In der Hypnose gibt sie an, sie habe noch gelegentliche Angstvorstellungen, wie, es könnte ihren Kindern etwas geschehen, sie könnten zeigen, dass man gerne die Begriffsbestimmung der letzteren erweitern und die Localisation des Schmerzes an die zweite Stelle drängen wollte. Wie bekannt pflegen viele neuropathische Frauen mit dem Migränanfall hysterische Anfälle (Zuckungen und Delirien) zu verbinden. So oft ich den Genickkrampf bei Frau Emmy sah, war auch jedesmal ein Anfall von Delirium dabei. Was die Arm- und Beinschmerzen angeht, so denke ich, dass hier ein Fall der nicht sehr interessanten, aber um so häufigeren Art der Determinirung durch zufällige Coincidenz vorlag. Sie hatte solche Schmerzen während jener Zeit der Aufregung und Krankenpflege gehabt, in Folge der Erschöpfung stärker als sonst empfunden, und diese, ursprünglich mit jenen Erlebnissen nur zufällig associirten Schmerzen wurden dann in ihrer Erinnerung als das körperliche Symbol des Associationscomplexes wiederholt. Ich werde von beweisenden Beispielen für diesen Vorgang in der Folge noch mehrere anführen können. Wahrscheinlich waren die Schmerzen ursprünglich rheumatische d. h., um dem viel missbrauchten Worte einen bestimmten Sinn zu geben, solche Schmerzen, die hauptsächlich in den Muskeln sitzen, bei denen bedeutende Druckempfindlichkeit und Consistenzveränderung der Muskeln nachzuweisen ist, die sich am heftigsten nach längerer Ruhe oder Fixirung der Extremität äussern, also am Morgen, die auf Einübung der schmerzhaften Bewegung sich bessern und durch Massage zum Verschwinden zu bringen sind. Diese myogenen Schmerzen, bei allen Menschen sehr häufig, gelangen bei den Neuropathen zu grosser Bedeutung; sie werden von ihnen mit Unterstützung der Aerzte, die nicht die Gewohnheit haben, die Muskeln mit dem Fingerdruck zu prüfen, für nervöse gehalten und geben das Material für unbestimmt viele hysterische Neuralgien, sogenannte Ischias u. dgl. ab. Auf die Beziehungen dieses Leidens zur gichtischen Disposition will ich hier nur kurz hinweisen. Mutter und zwei Schwestern meiner Patientin hatten an Gicht (oder chronischem Rheumatismus) im hohen Grade gelitten. Ein Theil der Schmerzen, über welche sie damals klagte, mochte auch gegenwärtiger Natur sein. Ich weiss es nicht; ich hatte damals noch keine Uebung in der Beurtheilung dieses Zustandes der Muskeln.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/65>, abgerufen am 28.04.2024.