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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Es erwies sich als ganz unthunlich, die Sache abzukürzen, indem man direct die erste Veranlassung der Symptome in ihre Erinnerung zu evociren suchte. Sie fand sie nicht, wurde verwirrt, und es ging noch langsamer, als wenn man sie ruhig und sicher den aufgenommenen Erinnerungsfaden nach rückwärts abhaspeln liess. Da das aber in der Abendhypnose zu langsam gieng, weil die Kranke von der "Aussprache" der zwei andern Serien angestrengt und zerstreut war, auch wohl die Erinnerungen Zeit brauchten, um in voller Lebhaftigkeit sich zu entwickeln, so bildete sich die folgende Procedur heraus. Ich suchte sie am Morgen auf, hypnotisirte sie (es waren sehr einfache Hypnoseproceduren empirisch gefunden worden) und fragte sie nun unter Concentration ihrer Gedanken auf das eben behandelte Symptom um die Gelegenheiten, bei denen es aufgetreten war. Patientin bezeichnete nun in rascher Folge mit kurzen Schlagworten diese äusseren Veranlassungen, die ich notirte. In der Abendhypnose erzählte sie dann, unterstützt durch die notirte Reihenfolge, ziemlich ausführlich die Begebenheiten. Mit welcher, in jedem Sinn, erschöpfenden Gründlichkeit das geschah, mag ein Beispiel zeigen. Es war immer vorgekommen, dass Patientin nicht hörte, wenn man sie ansprach. Dieses vorübergehende Nichthören differenzirte sich in folgender Weise:

a) Nicht hören, dass jemand eintrat, in Zerstreutheit. 108 einzeln detaillirte Fälle davon; Angabe der Personen und Umstände, oft des Datums; als erster, dass sie ihren Vater nicht eintreten gehört.
b) Nicht verstehen, wenn mehrere Personen sprechen, 27mal, das erstemal wieder der Vater und ein Bekannter.
c) Nicht hören, wenn allein, direct angesprochen 50mal, Ursprung, dass der Vater vergebens sie um Wein angesprochen.
d) Taubwerden durch Schütteln (im Wagen oder dgl.) 15mal; Ursprung, dass ihr junger Bruder sie im Streit geschüttelt, als er sie Nachts an der Thür des Krankenzimmers lauschend ertappte.
e) Taubwerden vor Schreck über ein Geräusch, 37mal; Ursprung ein Erstickungsanfall des Vaters durch Verschlucken.
f) Taubwerden in tiefer Absence, 12mal.
g) Taubwerden durch langes Horchen und Lauschen, so dass sie dann angesprochen nicht hörte, 54mal.

Natürlich sind all diese Vorgänge grossentheils identisch, indem sie sich auf die Zerstreutheit - Absence oder auf Schreckaffect

Es erwies sich als ganz unthunlich, die Sache abzukürzen, indem man direct die erste Veranlassung der Symptome in ihre Erinnerung zu evociren suchte. Sie fand sie nicht, wurde verwirrt, und es ging noch langsamer, als wenn man sie ruhig und sicher den aufgenommenen Erinnerungsfaden nach rückwärts abhaspeln liess. Da das aber in der Abendhypnose zu langsam gieng, weil die Kranke von der „Aussprache“ der zwei andern Serien angestrengt und zerstreut war, auch wohl die Erinnerungen Zeit brauchten, um in voller Lebhaftigkeit sich zu entwickeln, so bildete sich die folgende Procedur heraus. Ich suchte sie am Morgen auf, hypnotisirte sie (es waren sehr einfache Hypnoseproceduren empirisch gefunden worden) und fragte sie nun unter Concentration ihrer Gedanken auf das eben behandelte Symptom um die Gelegenheiten, bei denen es aufgetreten war. Patientin bezeichnete nun in rascher Folge mit kurzen Schlagworten diese äusseren Veranlassungen, die ich notirte. In der Abendhypnose erzählte sie dann, unterstützt durch die notirte Reihenfolge, ziemlich ausführlich die Begebenheiten. Mit welcher, in jedem Sinn, erschöpfenden Gründlichkeit das geschah, mag ein Beispiel zeigen. Es war immer vorgekommen, dass Patientin nicht hörte, wenn man sie ansprach. Dieses vorübergehende Nichthören differenzirte sich in folgender Weise:

a) Nicht hören, dass jemand eintrat, in Zerstreutheit. 108 einzeln detaillirte Fälle davon; Angabe der Personen und Umstände, oft des Datums; als erster, dass sie ihren Vater nicht eintreten gehört.
b) Nicht verstehen, wenn mehrere Personen sprechen, 27mal, das erstemal wieder der Vater und ein Bekannter.
c) Nicht hören, wenn allein, direct angesprochen 50mal, Ursprung, dass der Vater vergebens sie um Wein angesprochen.
d) Taubwerden durch Schütteln (im Wagen oder dgl.) 15mal; Ursprung, dass ihr junger Bruder sie im Streit geschüttelt, als er sie Nachts an der Thür des Krankenzimmers lauschend ertappte.
e) Taubwerden vor Schreck über ein Geräusch, 37mal; Ursprung ein Erstickungsanfall des Vaters durch Verschlucken.
f) Taubwerden in tiefer Absence, 12mal.
g) Taubwerden durch langes Horchen und Lauschen, so dass sie dann angesprochen nicht hörte, 54mal.

Natürlich sind all diese Vorgänge grossentheils identisch, indem sie sich auf die Zerstreutheit – Absence oder auf Schreckaffect

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[28/0034] Es erwies sich als ganz unthunlich, die Sache abzukürzen, indem man direct die erste Veranlassung der Symptome in ihre Erinnerung zu evociren suchte. Sie fand sie nicht, wurde verwirrt, und es ging noch langsamer, als wenn man sie ruhig und sicher den aufgenommenen Erinnerungsfaden nach rückwärts abhaspeln liess. Da das aber in der Abendhypnose zu langsam gieng, weil die Kranke von der „Aussprache“ der zwei andern Serien angestrengt und zerstreut war, auch wohl die Erinnerungen Zeit brauchten, um in voller Lebhaftigkeit sich zu entwickeln, so bildete sich die folgende Procedur heraus. Ich suchte sie am Morgen auf, hypnotisirte sie (es waren sehr einfache Hypnoseproceduren empirisch gefunden worden) und fragte sie nun unter Concentration ihrer Gedanken auf das eben behandelte Symptom um die Gelegenheiten, bei denen es aufgetreten war. Patientin bezeichnete nun in rascher Folge mit kurzen Schlagworten diese äusseren Veranlassungen, die ich notirte. In der Abendhypnose erzählte sie dann, unterstützt durch die notirte Reihenfolge, ziemlich ausführlich die Begebenheiten. Mit welcher, in jedem Sinn, erschöpfenden Gründlichkeit das geschah, mag ein Beispiel zeigen. Es war immer vorgekommen, dass Patientin nicht hörte, wenn man sie ansprach. Dieses vorübergehende Nichthören differenzirte sich in folgender Weise: a) Nicht hören, dass jemand eintrat, in Zerstreutheit. 108 einzeln detaillirte Fälle davon; Angabe der Personen und Umstände, oft des Datums; als erster, dass sie ihren Vater nicht eintreten gehört. b) Nicht verstehen, wenn mehrere Personen sprechen, 27mal, das erstemal wieder der Vater und ein Bekannter. c) Nicht hören, wenn allein, direct angesprochen 50mal, Ursprung, dass der Vater vergebens sie um Wein angesprochen. d) Taubwerden durch Schütteln (im Wagen oder dgl.) 15mal; Ursprung, dass ihr junger Bruder sie im Streit geschüttelt, als er sie Nachts an der Thür des Krankenzimmers lauschend ertappte. e) Taubwerden vor Schreck über ein Geräusch, 37mal; Ursprung ein Erstickungsanfall des Vaters durch Verschlucken. f) Taubwerden in tiefer Absence, 12mal. g) Taubwerden durch langes Horchen und Lauschen, so dass sie dann angesprochen nicht hörte, 54mal. Natürlich sind all diese Vorgänge grossentheils identisch, indem sie sich auf die Zerstreutheit – Absence oder auf Schreckaffect

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/34>, abgerufen am 29.03.2024.