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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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immer mit geschlossenen Augen. Andrerseits war bemerkt worden, dass sie in ihren Absencen während des Tages offenbar immer irgend eine Situation oder Geschichte ausbilde, über deren Beschaffenheit einzelne gemurmelte Worte Aufschluss gaben. Nun geschah es, zuerst zufällig, dann absichtlich, dass jemand von der Umgebung ein solches Stichwort fallen liess, während Patientin über das "Quälen" klagte; alsbald fiel sie ein und begann eine Situation auszumalen oder eine Geschichte zu erzählen, anfangs stockend in ihrem paraphasischen Jargon, je weiter, desto fliessender, bis sie zuletzt ganz correctes Deutsch sprach. (In der ersten Zeit, bevor sie völlig ins Englischsprechen gerathen war.) Die Geschichten, immer traurig, waren theilweise sehr hübsch, in der Art von Andersens "Bilderbuch ohne Bilder" und wahrscheinlich auch nach diesem Muster gebildet; meist war Ausgangs- oder Mittelpunkt die Situation eines bei einem Kranken in Angst sitzenden Mädchens; doch kamen auch ganz andere Motive zur Verarbeitung. - Einige Momente nach Vollendung der Erzählung erwachte sie, war offenbar beruhigt oder, wie sie es nannte, "gehäglich" (behaglich). Nachts wurde sie dann wieder unruhiger und am Morgen, nach zweistündigem Schlafe war sie offenbar wieder in einem anderen Vorstellungskreis. - Konnte sie mir in der Abendhypnose einmal die Geschichte nicht erzählen, so fehlte die abendliche Beruhigung, und am anderen Tag mussten zwei erzählt werden, um diese zu bewirken.

Das Wesentliche der beschriebenen Erscheinung, die Häufung und Verdichtung ihrer Absencen zur abendlichen Autohypnose, die Wirksamkeit der phantastischen Producte als psychischer Reiz und die Erleichterung und Behebung des Reizzustandes durch die Aussprache in der Hypnose, blieben durch die ganzen anderthalb Jahre der Beobachtung constant.

Nach dem Tode des Vaters wurden die Geschichten natürlich noch tragischer, aber erst mit der Verschlimmerung ihres psychischen Zustandes, welche der erzählten gewaltsamen Durchbrechung ihres Somnambulismus folgte, verloren die abendlichen Referate den Charakter mehr minder freier poetischer Schöpfung und wandelten sich in Reihen furchtbarer, schreckhafter Hallucinationen, die man Tags über, schon aus dem Benehmen der Kranken hatte erschliessen können. Ich habe aber schon geschildert, wie vollständig die Befreiung ihrer Psyche war, nachdem sie, von Angst und Grauen geschüttelt, all diese Schreckbilder reproducirt und ausgesprochen hatte.

immer mit geschlossenen Augen. Andrerseits war bemerkt worden, dass sie in ihren Absencen während des Tages offenbar immer irgend eine Situation oder Geschichte ausbilde, über deren Beschaffenheit einzelne gemurmelte Worte Aufschluss gaben. Nun geschah es, zuerst zufällig, dann absichtlich, dass jemand von der Umgebung ein solches Stichwort fallen liess, während Patientin über das „Quälen“ klagte; alsbald fiel sie ein und begann eine Situation auszumalen oder eine Geschichte zu erzählen, anfangs stockend in ihrem paraphasischen Jargon, je weiter, desto fliessender, bis sie zuletzt ganz correctes Deutsch sprach. (In der ersten Zeit, bevor sie völlig ins Englischsprechen gerathen war.) Die Geschichten, immer traurig, waren theilweise sehr hübsch, in der Art von Andersens „Bilderbuch ohne Bilder“ und wahrscheinlich auch nach diesem Muster gebildet; meist war Ausgangs- oder Mittelpunkt die Situation eines bei einem Kranken in Angst sitzenden Mädchens; doch kamen auch ganz andere Motive zur Verarbeitung. – Einige Momente nach Vollendung der Erzählung erwachte sie, war offenbar beruhigt oder, wie sie es nannte, „gehäglich“ (behaglich). Nachts wurde sie dann wieder unruhiger und am Morgen, nach zweistündigem Schlafe war sie offenbar wieder in einem anderen Vorstellungskreis. – Konnte sie mir in der Abendhypnose einmal die Geschichte nicht erzählen, so fehlte die abendliche Beruhigung, und am anderen Tag mussten zwei erzählt werden, um diese zu bewirken.

Das Wesentliche der beschriebenen Erscheinung, die Häufung und Verdichtung ihrer Absencen zur abendlichen Autohypnose, die Wirksamkeit der phantastischen Producte als psychischer Reiz und die Erleichterung und Behebung des Reizzustandes durch die Aussprache in der Hypnose, blieben durch die ganzen anderthalb Jahre der Beobachtung constant.

Nach dem Tode des Vaters wurden die Geschichten natürlich noch tragischer, aber erst mit der Verschlimmerung ihres psychischen Zustandes, welche der erzählten gewaltsamen Durchbrechung ihres Somnambulismus folgte, verloren die abendlichen Referate den Charakter mehr minder freier poetischer Schöpfung und wandelten sich in Reihen furchtbarer, schreckhafter Hallucinationen, die man Tags über, schon aus dem Benehmen der Kranken hatte erschliessen können. Ich habe aber schon geschildert, wie vollständig die Befreiung ihrer Psyche war, nachdem sie, von Angst und Grauen geschüttelt, all diese Schreckbilder reproducirt und ausgesprochen hatte.

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immer mit geschlossenen Augen. Andrerseits war bemerkt worden, dass sie in ihren Absencen während des Tages offenbar immer irgend eine Situation oder Geschichte ausbilde, über deren Beschaffenheit einzelne gemurmelte Worte Aufschluss gaben. Nun geschah es, zuerst zufällig, dann absichtlich, dass jemand von der Umgebung ein solches Stichwort fallen liess, während Patientin über das &#x201E;Quälen&#x201C; klagte; alsbald fiel sie ein und begann eine Situation auszumalen oder eine Geschichte zu erzählen, anfangs stockend in ihrem paraphasischen Jargon, je weiter, desto fliessender, bis sie zuletzt ganz correctes Deutsch sprach. (In der ersten Zeit, bevor sie völlig ins Englischsprechen gerathen war.) Die Geschichten, immer traurig, waren theilweise sehr hübsch, in der Art von Andersens &#x201E;Bilderbuch ohne Bilder&#x201C; und wahrscheinlich auch nach diesem Muster gebildet; meist war Ausgangs- oder Mittelpunkt die Situation eines bei einem Kranken in Angst sitzenden Mädchens; doch kamen auch ganz andere Motive zur Verarbeitung. &#x2013; Einige Momente nach Vollendung der Erzählung erwachte sie, war offenbar beruhigt oder, wie sie es nannte, &#x201E;gehäglich&#x201C; (behaglich). Nachts wurde sie dann wieder unruhiger und am Morgen, nach zweistündigem Schlafe war sie offenbar wieder in einem anderen Vorstellungskreis. &#x2013; Konnte sie mir in der Abendhypnose einmal die Geschichte nicht erzählen, so fehlte die abendliche Beruhigung, und am anderen Tag mussten zwei erzählt werden, um diese zu bewirken.</p>
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          <p>Nach dem Tode des Vaters wurden die Geschichten natürlich noch tragischer, aber erst mit der Verschlimmerung ihres psychischen Zustandes, welche der erzählten gewaltsamen Durchbrechung ihres Somnambulismus folgte, verloren die abendlichen Referate den Charakter mehr minder freier poetischer Schöpfung und wandelten sich in Reihen furchtbarer, schreckhafter Hallucinationen, die man Tags über, schon aus dem Benehmen der Kranken hatte erschliessen können. Ich habe aber schon geschildert, wie vollständig die Befreiung ihrer Psyche war, nachdem sie, von Angst und Grauen geschüttelt, all diese Schreckbilder reproducirt und ausgesprochen hatte.</p>
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[22/0028] immer mit geschlossenen Augen. Andrerseits war bemerkt worden, dass sie in ihren Absencen während des Tages offenbar immer irgend eine Situation oder Geschichte ausbilde, über deren Beschaffenheit einzelne gemurmelte Worte Aufschluss gaben. Nun geschah es, zuerst zufällig, dann absichtlich, dass jemand von der Umgebung ein solches Stichwort fallen liess, während Patientin über das „Quälen“ klagte; alsbald fiel sie ein und begann eine Situation auszumalen oder eine Geschichte zu erzählen, anfangs stockend in ihrem paraphasischen Jargon, je weiter, desto fliessender, bis sie zuletzt ganz correctes Deutsch sprach. (In der ersten Zeit, bevor sie völlig ins Englischsprechen gerathen war.) Die Geschichten, immer traurig, waren theilweise sehr hübsch, in der Art von Andersens „Bilderbuch ohne Bilder“ und wahrscheinlich auch nach diesem Muster gebildet; meist war Ausgangs- oder Mittelpunkt die Situation eines bei einem Kranken in Angst sitzenden Mädchens; doch kamen auch ganz andere Motive zur Verarbeitung. – Einige Momente nach Vollendung der Erzählung erwachte sie, war offenbar beruhigt oder, wie sie es nannte, „gehäglich“ (behaglich). Nachts wurde sie dann wieder unruhiger und am Morgen, nach zweistündigem Schlafe war sie offenbar wieder in einem anderen Vorstellungskreis. – Konnte sie mir in der Abendhypnose einmal die Geschichte nicht erzählen, so fehlte die abendliche Beruhigung, und am anderen Tag mussten zwei erzählt werden, um diese zu bewirken. Das Wesentliche der beschriebenen Erscheinung, die Häufung und Verdichtung ihrer Absencen zur abendlichen Autohypnose, die Wirksamkeit der phantastischen Producte als psychischer Reiz und die Erleichterung und Behebung des Reizzustandes durch die Aussprache in der Hypnose, blieben durch die ganzen anderthalb Jahre der Beobachtung constant. Nach dem Tode des Vaters wurden die Geschichten natürlich noch tragischer, aber erst mit der Verschlimmerung ihres psychischen Zustandes, welche der erzählten gewaltsamen Durchbrechung ihres Somnambulismus folgte, verloren die abendlichen Referate den Charakter mehr minder freier poetischer Schöpfung und wandelten sich in Reihen furchtbarer, schreckhafter Hallucinationen, die man Tags über, schon aus dem Benehmen der Kranken hatte erschliessen können. Ich habe aber schon geschildert, wie vollständig die Befreiung ihrer Psyche war, nachdem sie, von Angst und Grauen geschüttelt, all diese Schreckbilder reproducirt und ausgesprochen hatte.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/28>, abgerufen am 19.04.2024.