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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Ruhebedürfniss in den Nachmittagsstunden deutlich, an welches sich abends ein schlafähnlicher Zustand und dann starke Aufregung anschloss.

Anfangs December entstand Strabismus convergens. Ein Augenarzt erklärte diesen (irrigerweise) durch Parese des einen Abducens. Am 11. December wurde Patientin bettlägerig und blieb es bis 1. April.

In rascher Folge entwickelte sich, anscheinend ganz frisch, eine Reihe schwerer Störungen.

Linksseitiger Hinterkopf-Schmerz; Strabismus convergens (Diplopie) durch Aufregung bedeutend gesteigert; Klage über Herüberstürzen der Wand (Obliquus-Affection). Schwer analysirbare Sehstörungen; Parese der vordern Halsmuskeln, so dass der Kopf schliesslich nur dadurch bewegt wurde, dass Patientin ihn nach rückwärts zwischen die gehobenen Schultern presste und sich mit dem ganzen Rücken bewegte. Contractur und Anästhesie der rechten obern, nach einiger Zeit der rechten untern Extremität; auch diese völlig gestreckt, adducirt und nach innen rotirt; später tritt dieselbe Affection an der linken untern Extremität und zuletzt am linken Arm auf, an welchem aber die Finger einigermaassen beweglich blieben. Auch die Schultergelenke beiderseits waren nicht völlig rigide. Das Maximum der Contractur betrifft die Muskeln des Oberarms, wie auch später, als die Anästhesie genauer geprüft werden konnte, die Gegend des Ellbogens sich als am stärksten unempfindlich erwies. Im Beginne der Krankheit blieb die Anästhesieprüfung ungenügend, wegen des aus Angstgefühlen entspringenden Widerstandes der Patientin.

In diesem Zustande übernahm ich die Kranke in meine Behandlung und konnte mich alsbald von der schweren psychischen Alteration überzeugen, die da vorlag. Es bestanden zwei ganz getrennte Bewusstseinszustände, die sehr oft und unvermittelt abwechselten und sich im Laufe der Krankheit immer schärfer schieden. In dem einen kannte sie ihre Umgebung, war traurig und ängstlich, aber relativ normal; im andern hallucinirte sie, war "ungezogen", d. h. schimpfte, warf die Kissen nach den Leuten, soweit und wenn die Contractur dergleichen erlaubte, riss mit den beweglichen Fingern die Knöpfe von Decken und Wäsche und dgl. mehr. War während dieser Phase etwas im Zimmer verändert worden, jemand gekommen oder hinausgegangen, so klagte sie dann, ihr fehle Zeit, und bemerkte die Lücke im Ablauf ihrer bewussten Vorstellungen. Da man ihr das, wenn möglich, ableugnete, auf ihre Klage, sie werde verrückt, sie zu

Ruhebedürfniss in den Nachmittagsstunden deutlich, an welches sich abends ein schlafähnlicher Zustand und dann starke Aufregung anschloss.

Anfangs December entstand Strabismus convergens. Ein Augenarzt erklärte diesen (irrigerweise) durch Parese des einen Abducens. Am 11. December wurde Patientin bettlägerig und blieb es bis 1. April.

In rascher Folge entwickelte sich, anscheinend ganz frisch, eine Reihe schwerer Störungen.

Linksseitiger Hinterkopf-Schmerz; Strabismus convergens (Diplopie) durch Aufregung bedeutend gesteigert; Klage über Herüberstürzen der Wand (Obliquus-Affection). Schwer analysirbare Sehstörungen; Parese der vordern Halsmuskeln, so dass der Kopf schliesslich nur dadurch bewegt wurde, dass Patientin ihn nach rückwärts zwischen die gehobenen Schultern presste und sich mit dem ganzen Rücken bewegte. Contractur und Anästhesie der rechten obern, nach einiger Zeit der rechten untern Extremität; auch diese völlig gestreckt, adducirt und nach innen rotirt; später tritt dieselbe Affection an der linken untern Extremität und zuletzt am linken Arm auf, an welchem aber die Finger einigermaassen beweglich blieben. Auch die Schultergelenke beiderseits waren nicht völlig rigide. Das Maximum der Contractur betrifft die Muskeln des Oberarms, wie auch später, als die Anästhesie genauer geprüft werden konnte, die Gegend des Ellbogens sich als am stärksten unempfindlich erwies. Im Beginne der Krankheit blieb die Anästhesieprüfung ungenügend, wegen des aus Angstgefühlen entspringenden Widerstandes der Patientin.

In diesem Zustande übernahm ich die Kranke in meine Behandlung und konnte mich alsbald von der schweren psychischen Alteration überzeugen, die da vorlag. Es bestanden zwei ganz getrennte Bewusstseinszustände, die sehr oft und unvermittelt abwechselten und sich im Laufe der Krankheit immer schärfer schieden. In dem einen kannte sie ihre Umgebung, war traurig und ängstlich, aber relativ normal; im andern hallucinirte sie, war „ungezogen“, d. h. schimpfte, warf die Kissen nach den Leuten, soweit und wenn die Contractur dergleichen erlaubte, riss mit den beweglichen Fingern die Knöpfe von Decken und Wäsche und dgl. mehr. War während dieser Phase etwas im Zimmer verändert worden, jemand gekommen oder hinausgegangen, so klagte sie dann, ihr fehle Zeit, und bemerkte die Lücke im Ablauf ihrer bewussten Vorstellungen. Da man ihr das, wenn möglich, ableugnete, auf ihre Klage, sie werde verrückt, sie zu

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[17/0023] Ruhebedürfniss in den Nachmittagsstunden deutlich, an welches sich abends ein schlafähnlicher Zustand und dann starke Aufregung anschloss. Anfangs December entstand Strabismus convergens. Ein Augenarzt erklärte diesen (irrigerweise) durch Parese des einen Abducens. Am 11. December wurde Patientin bettlägerig und blieb es bis 1. April. In rascher Folge entwickelte sich, anscheinend ganz frisch, eine Reihe schwerer Störungen. Linksseitiger Hinterkopf-Schmerz; Strabismus convergens (Diplopie) durch Aufregung bedeutend gesteigert; Klage über Herüberstürzen der Wand (Obliquus-Affection). Schwer analysirbare Sehstörungen; Parese der vordern Halsmuskeln, so dass der Kopf schliesslich nur dadurch bewegt wurde, dass Patientin ihn nach rückwärts zwischen die gehobenen Schultern presste und sich mit dem ganzen Rücken bewegte. Contractur und Anästhesie der rechten obern, nach einiger Zeit der rechten untern Extremität; auch diese völlig gestreckt, adducirt und nach innen rotirt; später tritt dieselbe Affection an der linken untern Extremität und zuletzt am linken Arm auf, an welchem aber die Finger einigermaassen beweglich blieben. Auch die Schultergelenke beiderseits waren nicht völlig rigide. Das Maximum der Contractur betrifft die Muskeln des Oberarms, wie auch später, als die Anästhesie genauer geprüft werden konnte, die Gegend des Ellbogens sich als am stärksten unempfindlich erwies. Im Beginne der Krankheit blieb die Anästhesieprüfung ungenügend, wegen des aus Angstgefühlen entspringenden Widerstandes der Patientin. In diesem Zustande übernahm ich die Kranke in meine Behandlung und konnte mich alsbald von der schweren psychischen Alteration überzeugen, die da vorlag. Es bestanden zwei ganz getrennte Bewusstseinszustände, die sehr oft und unvermittelt abwechselten und sich im Laufe der Krankheit immer schärfer schieden. In dem einen kannte sie ihre Umgebung, war traurig und ängstlich, aber relativ normal; im andern hallucinirte sie, war „ungezogen“, d. h. schimpfte, warf die Kissen nach den Leuten, soweit und wenn die Contractur dergleichen erlaubte, riss mit den beweglichen Fingern die Knöpfe von Decken und Wäsche und dgl. mehr. War während dieser Phase etwas im Zimmer verändert worden, jemand gekommen oder hinausgegangen, so klagte sie dann, ihr fehle Zeit, und bemerkte die Lücke im Ablauf ihrer bewussten Vorstellungen. Da man ihr das, wenn möglich, ableugnete, auf ihre Klage, sie werde verrückt, sie zu

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/23>, abgerufen am 25.04.2024.