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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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II. Krankengeschichten.
Beobachtung I. Frl. Anna 0... (Breuer).

Frl. Anna 0..., zur Zeit der Erkrankung (1880) 21 Jahre alt, erscheint als neuropathisch mässig stark belastet durch einige in der grossen Familie vorgekommenen Psychosen; die Eltern sind nervös gesund. Sie selbst früher stets gesund, ohne irgend ein Nervosum während der Entwicklungsperiode; von bedeutender Intelligenz, erstaunlich scharfsinniger Combination und scharfsichtiger Intuition; ein kräftiger Intellect, der auch solide geistige Nahrung verdaut hätte und sie brauchte, nach Verlassen der Schule aber nicht erhielt. Reiche poetische und phantastische Begabung, controlirt durch sehr scharfen und kritischen Verstand. Dieser letztere machte sie auch völlig unsuggestibel; nur Argumente, nie Behauptungen hatten Einfluss auf sie. Ihr Wille war energisch, zäh und ausdauernd; manchmal zum Eigensinn gesteigert, der sein Ziel nur aus Güte, um Anderer willen, aufgab.

Zu den wesentlichsten Zügen des Charakters gehörte mitleidige Güte; die Pflege und Besorgung einiger Armen und Kranken leistete ihr selbst in ihrer Krankheit ausgezeichnete Dienste, da sie dadurch einen starken Trieb befriedigen konnte. - Ihre Stimmungen hatten immer eine leichte Tendenz zum Uebermaass, der Lustigkeit und der Trauer; daher auch einige Launenhaftigkeit. Das sexuale Element war erstaunlich unentwickelt; die Kranke, deren Leben mir durchsichtig wurde, wie selten das eines Menschen einem andern, hatte nie eine Liebe gehabt und in all den massenhaften Hallucinationen ihrer Krankheit tauchte niemals dieses Element des Seelenlebens empor.

Dieses Mädchen von überfliessender geistiger Vitalität führte in der puritanisch gesinnten Familie ein höchst monotones Leben, dass sie sich in einer für ihre Krankheit wahrscheinlich maassgebenden Weise verschönerte. Sie pflegte systematisch das Wachträumen, das sie ihr "Privattheater" nannte. Während alle sie anwesend glaubten, lebte sie im Geiste Märchen durch, war aber angerufen immer

II. Krankengeschichten.
Beobachtung I. Frl. Anna 0... (Breuer).

Frl. Anna 0..., zur Zeit der Erkrankung (1880) 21 Jahre alt, erscheint als neuropathisch mässig stark belastet durch einige in der grossen Familie vorgekommenen Psychosen; die Eltern sind nervös gesund. Sie selbst früher stets gesund, ohne irgend ein Nervosum während der Entwicklungsperiode; von bedeutender Intelligenz, erstaunlich scharfsinniger Combination und scharfsichtiger Intuition; ein kräftiger Intellect, der auch solide geistige Nahrung verdaut hätte und sie brauchte, nach Verlassen der Schule aber nicht erhielt. Reiche poetische und phantastische Begabung, controlirt durch sehr scharfen und kritischen Verstand. Dieser letztere machte sie auch völlig unsuggestibel; nur Argumente, nie Behauptungen hatten Einfluss auf sie. Ihr Wille war energisch, zäh und ausdauernd; manchmal zum Eigensinn gesteigert, der sein Ziel nur aus Güte, um Anderer willen, aufgab.

Zu den wesentlichsten Zügen des Charakters gehörte mitleidige Güte; die Pflege und Besorgung einiger Armen und Kranken leistete ihr selbst in ihrer Krankheit ausgezeichnete Dienste, da sie dadurch einen starken Trieb befriedigen konnte. – Ihre Stimmungen hatten immer eine leichte Tendenz zum Uebermaass, der Lustigkeit und der Trauer; daher auch einige Launenhaftigkeit. Das sexuale Element war erstaunlich unentwickelt; die Kranke, deren Leben mir durchsichtig wurde, wie selten das eines Menschen einem andern, hatte nie eine Liebe gehabt und in all den massenhaften Hallucinationen ihrer Krankheit tauchte niemals dieses Element des Seelenlebens empor.

Dieses Mädchen von überfliessender geistiger Vitalität führte in der puritanisch gesinnten Familie ein höchst monotones Leben, dass sie sich in einer für ihre Krankheit wahrscheinlich maassgebenden Weise verschönerte. Sie pflegte systematisch das Wachträumen, das sie ihr „Privattheater“ nannte. Während alle sie anwesend glaubten, lebte sie im Geiste Märchen durch, war aber angerufen immer

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[15/0021] II. Krankengeschichten. Beobachtung I. Frl. Anna 0... (Breuer). Frl. Anna 0..., zur Zeit der Erkrankung (1880) 21 Jahre alt, erscheint als neuropathisch mässig stark belastet durch einige in der grossen Familie vorgekommenen Psychosen; die Eltern sind nervös gesund. Sie selbst früher stets gesund, ohne irgend ein Nervosum während der Entwicklungsperiode; von bedeutender Intelligenz, erstaunlich scharfsinniger Combination und scharfsichtiger Intuition; ein kräftiger Intellect, der auch solide geistige Nahrung verdaut hätte und sie brauchte, nach Verlassen der Schule aber nicht erhielt. Reiche poetische und phantastische Begabung, controlirt durch sehr scharfen und kritischen Verstand. Dieser letztere machte sie auch völlig unsuggestibel; nur Argumente, nie Behauptungen hatten Einfluss auf sie. Ihr Wille war energisch, zäh und ausdauernd; manchmal zum Eigensinn gesteigert, der sein Ziel nur aus Güte, um Anderer willen, aufgab. Zu den wesentlichsten Zügen des Charakters gehörte mitleidige Güte; die Pflege und Besorgung einiger Armen und Kranken leistete ihr selbst in ihrer Krankheit ausgezeichnete Dienste, da sie dadurch einen starken Trieb befriedigen konnte. – Ihre Stimmungen hatten immer eine leichte Tendenz zum Uebermaass, der Lustigkeit und der Trauer; daher auch einige Launenhaftigkeit. Das sexuale Element war erstaunlich unentwickelt; die Kranke, deren Leben mir durchsichtig wurde, wie selten das eines Menschen einem andern, hatte nie eine Liebe gehabt und in all den massenhaften Hallucinationen ihrer Krankheit tauchte niemals dieses Element des Seelenlebens empor. Dieses Mädchen von überfliessender geistiger Vitalität führte in der puritanisch gesinnten Familie ein höchst monotones Leben, dass sie sich in einer für ihre Krankheit wahrscheinlich maassgebenden Weise verschönerte. Sie pflegte systematisch das Wachträumen, das sie ihr „Privattheater“ nannte. Während alle sie anwesend glaubten, lebte sie im Geiste Märchen durch, war aber angerufen immer

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/21>, abgerufen am 28.03.2024.