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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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ihre besondere Färbung. Aber sie ist unverkennbar in der ängstlichen Aufregung der Dyspnoe, wie in der Unruhe des Hungernden.

Die Erregungssteigerung, welche diesen Quellen entfliesst, ist bedingt durch die chemische Veränderung der Hirnelemente selbst, welche an Sauerstoff oder Spannkräften oder Wasser verarmen; sie fliesst in präformirten motorischen Bahnen ab, welche zur Befriedigung des auslösenden Bedürfnisses führen; die Dyspnoe in den Anstrengungen der Athmung, Hunger und Durst im Aufsuchen und Erringen der Nahrung und des Wassers. Das Princip der Constanz der Erregung tritt dieser Aufregung gegenüber kaum in Wirksamkeit; sind ja doch die Interessen, welchen die Erregungssteigerung hier dient, für den Organismus viel wichtiger als die Wiederherstellung normaler Functionsverhältnisse des Gehirns. Zwar sieht man die Thiere der Menagerie vor der Fütterungsstunde aufgeregt hin und her laufen; aber dies mag wohl als ein Rest der präformirten motorischen Leistung, der Nahrungssuche, gelten, die nun durch die Gefangenschaft zwecklos geworden ist, nicht als ein Mittel, das Nervensystem von der Aufregung zu befreien.

Wenn die chemische Structur des Nervensystems durch anhaltende Zufuhr fremder Stoffe dauernd abgeändert worden ist, so bedingt auch der Mangel an diesen Aufregungszustände: wie der Mangel der normalen Nährstoffe beim Gesunden, die Aufregung der Abstinenz von Narcoticis.



Den Uebergang von diesen endogenen Erregungssteigerungen zu den psychischen Affecten im engeren Sinne bildet die sexuale Erregung und der sexuale Affect. Als erstere, als vage, unbestimmte, ziellose Erregungssteigerung erscheint die Sexualität während der Pubertät. In weiterer Entwicklung bildet sich (normalerweise) eine feste Verbindung dieser endogenen, durch die Function der Geschlechtsdrüsen bedingten Erregungssteigerung mit der Wahrnehmung oder Vorstellung des anderen Geschlechtes; ja bei dem wunderbaren Phänomen des Verliebens in eine einzelne Person mit dieser Individual-Vorstellung. Diese tritt in Besitz der ganzen Quantität von Erregung, welche durch den Sexualtrieb frei gemacht wird; sie wird eine "affective Vorstellung". Das heisst: bei ihrem Actuellwerden im Bewusstsein löst sie den Erregungszuwachs aus, der eigentlich einer anderen Quelle, den Geschlechtsdrüsen, entstammt.

Der Sexualtrieb ist gewiss die mächtigste Quelle von lange anhaltenden Erregungszuwächsen (und als solche, von Neurosen);

ihre besondere Färbung. Aber sie ist unverkennbar in der ängstlichen Aufregung der Dyspnoe, wie in der Unruhe des Hungernden.

Die Erregungssteigerung, welche diesen Quellen entfliesst, ist bedingt durch die chemische Veränderung der Hirnelemente selbst, welche an Sauerstoff oder Spannkräften oder Wasser verarmen; sie fliesst in präformirten motorischen Bahnen ab, welche zur Befriedigung des auslösenden Bedürfnisses führen; die Dyspnoe in den Anstrengungen der Athmung, Hunger und Durst im Aufsuchen und Erringen der Nahrung und des Wassers. Das Princip der Constanz der Erregung tritt dieser Aufregung gegenüber kaum in Wirksamkeit; sind ja doch die Interessen, welchen die Erregungssteigerung hier dient, für den Organismus viel wichtiger als die Wiederherstellung normaler Functionsverhältnisse des Gehirns. Zwar sieht man die Thiere der Menagerie vor der Fütterungsstunde aufgeregt hin und her laufen; aber dies mag wohl als ein Rest der präformirten motorischen Leistung, der Nahrungssuche, gelten, die nun durch die Gefangenschaft zwecklos geworden ist, nicht als ein Mittel, das Nervensystem von der Aufregung zu befreien.

Wenn die chemische Structur des Nervensystems durch anhaltende Zufuhr fremder Stoffe dauernd abgeändert worden ist, so bedingt auch der Mangel an diesen Aufregungszustände: wie der Mangel der normalen Nährstoffe beim Gesunden, die Aufregung der Abstinenz von Narcoticis.



Den Uebergang von diesen endogenen Erregungssteigerungen zu den psychischen Affecten im engeren Sinne bildet die sexuale Erregung und der sexuale Affect. Als erstere, als vage, unbestimmte, ziellose Erregungssteigerung erscheint die Sexualität während der Pubertät. In weiterer Entwicklung bildet sich (normalerweise) eine feste Verbindung dieser endogenen, durch die Function der Geschlechtsdrüsen bedingten Erregungssteigerung mit der Wahrnehmung oder Vorstellung des anderen Geschlechtes; ja bei dem wunderbaren Phänomen des Verliebens in eine einzelne Person mit dieser Individual-Vorstellung. Diese tritt in Besitz der ganzen Quantität von Erregung, welche durch den Sexualtrieb frei gemacht wird; sie wird eine „affective Vorstellung“. Das heisst: bei ihrem Actuellwerden im Bewusstsein löst sie den Erregungszuwachs aus, der eigentlich einer anderen Quelle, den Geschlechtsdrüsen, entstammt.

Der Sexualtrieb ist gewiss die mächtigste Quelle von lange anhaltenden Erregungszuwächsen (und als solche, von Neurosen);

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[174/0180] ihre besondere Färbung. Aber sie ist unverkennbar in der ängstlichen Aufregung der Dyspnoe, wie in der Unruhe des Hungernden. Die Erregungssteigerung, welche diesen Quellen entfliesst, ist bedingt durch die chemische Veränderung der Hirnelemente selbst, welche an Sauerstoff oder Spannkräften oder Wasser verarmen; sie fliesst in präformirten motorischen Bahnen ab, welche zur Befriedigung des auslösenden Bedürfnisses führen; die Dyspnoe in den Anstrengungen der Athmung, Hunger und Durst im Aufsuchen und Erringen der Nahrung und des Wassers. Das Princip der Constanz der Erregung tritt dieser Aufregung gegenüber kaum in Wirksamkeit; sind ja doch die Interessen, welchen die Erregungssteigerung hier dient, für den Organismus viel wichtiger als die Wiederherstellung normaler Functionsverhältnisse des Gehirns. Zwar sieht man die Thiere der Menagerie vor der Fütterungsstunde aufgeregt hin und her laufen; aber dies mag wohl als ein Rest der präformirten motorischen Leistung, der Nahrungssuche, gelten, die nun durch die Gefangenschaft zwecklos geworden ist, nicht als ein Mittel, das Nervensystem von der Aufregung zu befreien. Wenn die chemische Structur des Nervensystems durch anhaltende Zufuhr fremder Stoffe dauernd abgeändert worden ist, so bedingt auch der Mangel an diesen Aufregungszustände: wie der Mangel der normalen Nährstoffe beim Gesunden, die Aufregung der Abstinenz von Narcoticis. Den Uebergang von diesen endogenen Erregungssteigerungen zu den psychischen Affecten im engeren Sinne bildet die sexuale Erregung und der sexuale Affect. Als erstere, als vage, unbestimmte, ziellose Erregungssteigerung erscheint die Sexualität während der Pubertät. In weiterer Entwicklung bildet sich (normalerweise) eine feste Verbindung dieser endogenen, durch die Function der Geschlechtsdrüsen bedingten Erregungssteigerung mit der Wahrnehmung oder Vorstellung des anderen Geschlechtes; ja bei dem wunderbaren Phänomen des Verliebens in eine einzelne Person mit dieser Individual-Vorstellung. Diese tritt in Besitz der ganzen Quantität von Erregung, welche durch den Sexualtrieb frei gemacht wird; sie wird eine „affective Vorstellung“. Das heisst: bei ihrem Actuellwerden im Bewusstsein löst sie den Erregungszuwachs aus, der eigentlich einer anderen Quelle, den Geschlechtsdrüsen, entstammt. Der Sexualtrieb ist gewiss die mächtigste Quelle von lange anhaltenden Erregungszuwächsen (und als solche, von Neurosen);

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/180>, abgerufen am 24.11.2024.