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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Wie das spontane Erwachen vor sich geht, ob immer ein und derselbe Gehirntheil zuerst in den Zustand der Wacherregung tritt und diese von ihm aus sich verbreitet, oder ob bald die eine, bald die andere Gruppe von Elementen als Erwecker fungirt, ist wohl noch völlig unklar.

Doch beweist das spontane Erwachen, welches ja auch in voller Ruhe und Finsterniss ohne äussere Reize eintritt, dass die Entwicklung von Energie im Lebensprocess der Hirnelemente selbst begründet ist.

Der Muskel bleibt, ungereizt, ruhig, auch wenn er noch solange geruht und das Maximum von Spannkräften in sich angehäuft hat. Nicht so die Hirnelemente. Wir nehmen wohl mit Recht an, dass diese im Schlafe ihren Bestand restituiren und Spannkräfte sammeln. Ist das bis zu einem gewissen Grade geschehen, sozusagen ein gewisses Niveau erreicht, so strömt der Ueberschuss in die Leitungswege ab, bahnt sie und stellt die intracerebrale Erregung des Wachens her.

Denselben Vorgang können wir in lehrreicher Weise im Wachen beobachten. Wenn das wache Gehirn längere Zeit in Ruhe verbleibt, ohne durch Function Spannkraft in lebendige Energie zu verwandeln, so tritt das Bedürfniss und der Drang nach Bethätigung ein. Lange motorische Ruhe schafft das Bewegungsbedürfniss (zweckloses Herumlaufen der Thiere im Käfig) und ein peinliches Gefühl, wenn dies Bedürfniss nicht befriedigt werden kann. Mangel an Sinnesreizen, Finsterniss, lautlose Stille wird zur Pein; geistige Ruhe, Mangel an Wahrnehmungen, Vorstellungen, an Associationsthätigkeit erzeugen die Qual der Langeweile. Diese Unlustgefühle entsprechen einer "Aufregung", einer Steigerung der normalen intracerebralen Erregung.

Die vollständig restituirten Hirnelemente machen also auch in der Ruhe ein gewisses Maass von Energie frei, welches, functionell nicht verwertet, die intracerebrale Erregung steigert. Dies erzeugt ein Unlustgefühl. Solche entstehen immer, wenn ein Bedürfniss des Organismus nicht Befriedigung findet. Da die hier besprochenen schwinden, wenn das frei gewordene überschüssige Quantum von Erregung functionell verwendet wird, so schliessen wir, dass diese Wegschaffung des Erregungsüberschusses ein Bedürfniss des Organismus sei, und treffen hier zum erstenmale auf die Thatsache, dass im Organismus die "Tendenz zur Constanterhaltung der intracerebralen Erregung" (Freud) besteht.

Wie das spontane Erwachen vor sich geht, ob immer ein und derselbe Gehirntheil zuerst in den Zustand der Wacherregung tritt und diese von ihm aus sich verbreitet, oder ob bald die eine, bald die andere Gruppe von Elementen als Erwecker fungirt, ist wohl noch völlig unklar.

Doch beweist das spontane Erwachen, welches ja auch in voller Ruhe und Finsterniss ohne äussere Reize eintritt, dass die Entwicklung von Energie im Lebensprocess der Hirnelemente selbst begründet ist.

Der Muskel bleibt, ungereizt, ruhig, auch wenn er noch solange geruht und das Maximum von Spannkräften in sich angehäuft hat. Nicht so die Hirnelemente. Wir nehmen wohl mit Recht an, dass diese im Schlafe ihren Bestand restituiren und Spannkräfte sammeln. Ist das bis zu einem gewissen Grade geschehen, sozusagen ein gewisses Niveau erreicht, so strömt der Ueberschuss in die Leitungswege ab, bahnt sie und stellt die intracerebrale Erregung des Wachens her.

Denselben Vorgang können wir in lehrreicher Weise im Wachen beobachten. Wenn das wache Gehirn längere Zeit in Ruhe verbleibt, ohne durch Function Spannkraft in lebendige Energie zu verwandeln, so tritt das Bedürfniss und der Drang nach Bethätigung ein. Lange motorische Ruhe schafft das Bewegungsbedürfniss (zweckloses Herumlaufen der Thiere im Käfig) und ein peinliches Gefühl, wenn dies Bedürfniss nicht befriedigt werden kann. Mangel an Sinnesreizen, Finsterniss, lautlose Stille wird zur Pein; geistige Ruhe, Mangel an Wahrnehmungen, Vorstellungen, an Associationsthätigkeit erzeugen die Qual der Langeweile. Diese Unlustgefühle entsprechen einer „Aufregung“, einer Steigerung der normalen intracerebralen Erregung.

Die vollständig restituirten Hirnelemente machen also auch in der Ruhe ein gewisses Maass von Energie frei, welches, functionell nicht verwertet, die intracerebrale Erregung steigert. Dies erzeugt ein Unlustgefühl. Solche entstehen immer, wenn ein Bedürfniss des Organismus nicht Befriedigung findet. Da die hier besprochenen schwinden, wenn das frei gewordene überschüssige Quantum von Erregung functionell verwendet wird, so schliessen wir, dass diese Wegschaffung des Erregungsüberschusses ein Bedürfniss des Organismus sei, und treffen hier zum erstenmale auf die Thatsache, dass im Organismus die „Tendenz zur Constanterhaltung der intracerebralen Erregung“ (Freud) besteht.

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[171/0177] Wie das spontane Erwachen vor sich geht, ob immer ein und derselbe Gehirntheil zuerst in den Zustand der Wacherregung tritt und diese von ihm aus sich verbreitet, oder ob bald die eine, bald die andere Gruppe von Elementen als Erwecker fungirt, ist wohl noch völlig unklar. Doch beweist das spontane Erwachen, welches ja auch in voller Ruhe und Finsterniss ohne äussere Reize eintritt, dass die Entwicklung von Energie im Lebensprocess der Hirnelemente selbst begründet ist. Der Muskel bleibt, ungereizt, ruhig, auch wenn er noch solange geruht und das Maximum von Spannkräften in sich angehäuft hat. Nicht so die Hirnelemente. Wir nehmen wohl mit Recht an, dass diese im Schlafe ihren Bestand restituiren und Spannkräfte sammeln. Ist das bis zu einem gewissen Grade geschehen, sozusagen ein gewisses Niveau erreicht, so strömt der Ueberschuss in die Leitungswege ab, bahnt sie und stellt die intracerebrale Erregung des Wachens her. Denselben Vorgang können wir in lehrreicher Weise im Wachen beobachten. Wenn das wache Gehirn längere Zeit in Ruhe verbleibt, ohne durch Function Spannkraft in lebendige Energie zu verwandeln, so tritt das Bedürfniss und der Drang nach Bethätigung ein. Lange motorische Ruhe schafft das Bewegungsbedürfniss (zweckloses Herumlaufen der Thiere im Käfig) und ein peinliches Gefühl, wenn dies Bedürfniss nicht befriedigt werden kann. Mangel an Sinnesreizen, Finsterniss, lautlose Stille wird zur Pein; geistige Ruhe, Mangel an Wahrnehmungen, Vorstellungen, an Associationsthätigkeit erzeugen die Qual der Langeweile. Diese Unlustgefühle entsprechen einer „Aufregung“, einer Steigerung der normalen intracerebralen Erregung. Die vollständig restituirten Hirnelemente machen also auch in der Ruhe ein gewisses Maass von Energie frei, welches, functionell nicht verwertet, die intracerebrale Erregung steigert. Dies erzeugt ein Unlustgefühl. Solche entstehen immer, wenn ein Bedürfniss des Organismus nicht Befriedigung findet. Da die hier besprochenen schwinden, wenn das frei gewordene überschüssige Quantum von Erregung functionell verwendet wird, so schliessen wir, dass diese Wegschaffung des Erregungsüberschusses ein Bedürfniss des Organismus sei, und treffen hier zum erstenmale auf die Thatsache, dass im Organismus die „Tendenz zur Constanterhaltung der intracerebralen Erregung“ (Freud) besteht.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/177>, abgerufen am 27.04.2024.