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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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in der Herzgegend begleitet. ("Es hat mir einen Stich in's Herz gegeben"). Der nagelförmige Kopfschmerz der Hysterie war bei ihr unzweifelhaft als Denkschmerz aufzulösen. ("Es steckt mir etwas im Kopf); er löste sich auch jedesmal, wenn das betreffende Problem gelöst war. Der Empfindung der hysterischen Aura im Halse ging der Gedanke parallel: Das muss ich herunterschlucken, wenn diese Empfindung bei einer Kränkung auftrat. Es war eine ganze Reihe von parallel laufenden Sensationen und Vorstellungen, in welcher bald die Sensation die Vorstellung als Deutung erweckt, bald die Vorstellung durch Symbolisirung die Sensation geschaffen hatte, und nicht selten musste es zweifelhaft bleiben, welches der beiden Elemente das primäre gewesen war.

Ich habe bei keiner anderen Patientin mehr eine so ausgiebige Verwendung der Symbolisirung auffinden können. Freilich war Frau Cäcilie M. eine Person von ganz ungewöhnlicher, insbesondere künstlerischer Begabung, deren hochentwickelter Sinn für Form sich in vollendet schönen Gedichten kundgab. Ich behaupte aber, es liegt weniger Individuelles und Willkürliches, als man meinen sollte, darin, wenn die Hysterica der affectbetonten Vorstellung durch Symbolisirung einen somatischen Ausdruck schafft. Indem sie den sprachlichen Ausdruck wörtlich nimmt, den "Stich ins Herz" oder den "Schlag in's Gesicht" bei einer verletzenden Anrede wie eine reale Begebenheit empfindet, übt sie keinen witzigen Missbrauch, sondern belebt nur die Empfindungen von Neuem, denen der sprachliche Ausdruck seine Berechtigung verdankt. Wie kämen wir denn dazu, von dem Gekränkten zu sagen, "es hat ihm einen Stich in's Herz gegeben", wenn nicht thatsächlich die Kränkung von einer derartig zu deutenden Präcordialempfindung begleitet und an ihr kenntlich wäre? Wie wahrscheinlich ist es nicht, dass die Redensart "etwas herunterschlucken", die man auf unerwiderte Beleidigung anwendet, thatsächlich von den Innervationsempfindungen herrührt, die im Schlunde auftreten, wenn man sich die Rede versagt, sich an der Reaction auf Beleidigung hindert? All diese Sensationen und Innervationen gehören dem "Ausdruck der Gemüthsbewegungen" an, der, wie uns Darwin gelehrt hat, aus ursprünglich sinnvollen und zweckmässigen Leistungen besteht; sie mögen gegenwärtig zumeist so weit abgeschwächt sein, dass ihr sprachlicher Ausdruck uns als bildliche Uebertragung erscheint, allein sehr wahrscheinlich war das alles einmal wörtlich gemeint, und die Hysterie thut Recht daran, wenn sie für ihre stärkeren Innervationen den

in der Herzgegend begleitet. („Es hat mir einen Stich in's Herz gegeben“). Der nagelförmige Kopfschmerz der Hysterie war bei ihr unzweifelhaft als Denkschmerz aufzulösen. („Es steckt mir etwas im Kopf); er löste sich auch jedesmal, wenn das betreffende Problem gelöst war. Der Empfindung der hysterischen Aura im Halse ging der Gedanke parallel: Das muss ich herunterschlucken, wenn diese Empfindung bei einer Kränkung auftrat. Es war eine ganze Reihe von parallel laufenden Sensationen und Vorstellungen, in welcher bald die Sensation die Vorstellung als Deutung erweckt, bald die Vorstellung durch Symbolisirung die Sensation geschaffen hatte, und nicht selten musste es zweifelhaft bleiben, welches der beiden Elemente das primäre gewesen war.

Ich habe bei keiner anderen Patientin mehr eine so ausgiebige Verwendung der Symbolisirung auffinden können. Freilich war Frau Cäcilie M. eine Person von ganz ungewöhnlicher, insbesondere künstlerischer Begabung, deren hochentwickelter Sinn für Form sich in vollendet schönen Gedichten kundgab. Ich behaupte aber, es liegt weniger Individuelles und Willkürliches, als man meinen sollte, darin, wenn die Hysterica der affectbetonten Vorstellung durch Symbolisirung einen somatischen Ausdruck schafft. Indem sie den sprachlichen Ausdruck wörtlich nimmt, den „Stich ins Herz“ oder den „Schlag in's Gesicht“ bei einer verletzenden Anrede wie eine reale Begebenheit empfindet, übt sie keinen witzigen Missbrauch, sondern belebt nur die Empfindungen von Neuem, denen der sprachliche Ausdruck seine Berechtigung verdankt. Wie kämen wir denn dazu, von dem Gekränkten zu sagen, „es hat ihm einen Stich in's Herz gegeben“, wenn nicht thatsächlich die Kränkung von einer derartig zu deutenden Präcordialempfindung begleitet und an ihr kenntlich wäre? Wie wahrscheinlich ist es nicht, dass die Redensart „etwas herunterschlucken“, die man auf unerwiderte Beleidigung anwendet, thatsächlich von den Innervationsempfindungen herrührt, die im Schlunde auftreten, wenn man sich die Rede versagt, sich an der Reaction auf Beleidigung hindert? All diese Sensationen und Innervationen gehören dem „Ausdruck der Gemüthsbewegungen“ an, der, wie uns Darwin gelehrt hat, aus ursprünglich sinnvollen und zweckmässigen Leistungen besteht; sie mögen gegenwärtig zumeist so weit abgeschwächt sein, dass ihr sprachlicher Ausdruck uns als bildliche Uebertragung erscheint, allein sehr wahrscheinlich war das alles einmal wörtlich gemeint, und die Hysterie thut Recht daran, wenn sie für ihre stärkeren Innervationen den

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/165>, abgerufen am 27.04.2024.