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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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brachte. Ein tüchtiger Gesangslehrer nahm sich ihrer uneigennützig an und versicherte ihr, dass ihre Stimme sie berechtige, den Beruf einer Sängerin zu wählen. Sie begann nun heimlich Unterricht bei ihm zu nehmen, aber dadurch, dass sie oft mit dem Schnüren im Hals, wie es nach heftigen häuslichen Scenen übrig blieb, zum Sangunterricht wegeilte, festigte sich eine Beziehung zwischen dem Singen und der hysterischen Parästhesie, die schon durch die Organempfindung beim Singen angebahnt war. Der Apparat, über den sie beim Singen frei hätte verfügen sollen, zeigte sich besetzt mit Innervationsresten nach jenen zahlreichen Scenen unterdrückter Erregung. Sie hatte seither das Haus ihres Onkels verlassen, war in eine fremde Stadt gezogen, um der Familie fern zu bleiben, aber das Hinderniss war damit nicht überwunden. Andere hysterische Symptome zeigte das schöne, ungewöhnlich verständige Mädchen nicht.

Ich bemühte mich, diese "Retentionshysterie" durch Reproduciren aller erregenden Eindrücke und nachträgliches Abreagiren zu erledigen. Ich liess sie schimpfen, Reden halten, dem Onkel tüchtig die Wahrheit in's Gesicht sagen u. dgl. Diese Behandlung that ihr auch sehr wohl; leider lebte sie unterdess hier in recht ungünstigen Verhältnissen. Sie hatte kein Glück mit ihren Verwandten. Sie war Gast bei einem anderen Onkel, der sie auch freundlich aufnahm; aber gerade dadurch erregte sie das Missfallen der Tante. Diese Frau vermuthete bei ihrem Manne ein tiefer gehendes Interesse an seiner Nichte und liess es sich angelegen sein, dem Mädchen den Aufenthalt in Wien gründlich zu verleiden. Sie hatte selbst in ihrer Jugend einer Neigung zur Künstlerschaft entsagen müssen und neidete es jetzt der Nichte, dass sie ihr Talent ausbilden konnte, obwohl hier nicht Neigung, sondern Drang zur Selbständigkeit die Entschliessung herbeigeführt hatte. Rosalie fühlte sich so beengt im Hause, dass sie z. B. nicht zu singen oder Clavier zu spielen wagte, wenn die Tante in Hörweite war, und dass sie es sorgfältig vermied, dein übrigens betagten Onkel - Bruder ihrer Mutter - etwas vorzuspielen oder vorzusingen, wenn die Tante hinzukommen konnte. Während ich mich bemühte, die Spuren alter Erregungen zu tilgen, entstanden aus diesem Verhältniss zu ihren Gastgebern neue, die endlich auch den Erfolg meiner Behandlung störten und vorzeitig die Cur unterbrachen.

Eines Tages erschien die Patientin bei mir mit einem neuen, kaum 24 Stunden alten Symptom. Sie klagte über ein unangenehmes Prickeln in den Fingerspitzen, das seit gestern alle paar Stunden auftrete

brachte. Ein tüchtiger Gesangslehrer nahm sich ihrer uneigennützig an und versicherte ihr, dass ihre Stimme sie berechtige, den Beruf einer Sängerin zu wählen. Sie begann nun heimlich Unterricht bei ihm zu nehmen, aber dadurch, dass sie oft mit dem Schnüren im Hals, wie es nach heftigen häuslichen Scenen übrig blieb, zum Sangunterricht wegeilte, festigte sich eine Beziehung zwischen dem Singen und der hysterischen Parästhesie, die schon durch die Organempfindung beim Singen angebahnt war. Der Apparat, über den sie beim Singen frei hätte verfügen sollen, zeigte sich besetzt mit Innervationsresten nach jenen zahlreichen Scenen unterdrückter Erregung. Sie hatte seither das Haus ihres Onkels verlassen, war in eine fremde Stadt gezogen, um der Familie fern zu bleiben, aber das Hinderniss war damit nicht überwunden. Andere hysterische Symptome zeigte das schöne, ungewöhnlich verständige Mädchen nicht.

Ich bemühte mich, diese „Retentionshysterie“ durch Reproduciren aller erregenden Eindrücke und nachträgliches Abreagiren zu erledigen. Ich liess sie schimpfen, Reden halten, dem Onkel tüchtig die Wahrheit in's Gesicht sagen u. dgl. Diese Behandlung that ihr auch sehr wohl; leider lebte sie unterdess hier in recht ungünstigen Verhältnissen. Sie hatte kein Glück mit ihren Verwandten. Sie war Gast bei einem anderen Onkel, der sie auch freundlich aufnahm; aber gerade dadurch erregte sie das Missfallen der Tante. Diese Frau vermuthete bei ihrem Manne ein tiefer gehendes Interesse an seiner Nichte und liess es sich angelegen sein, dem Mädchen den Aufenthalt in Wien gründlich zu verleiden. Sie hatte selbst in ihrer Jugend einer Neigung zur Künstlerschaft entsagen müssen und neidete es jetzt der Nichte, dass sie ihr Talent ausbilden konnte, obwohl hier nicht Neigung, sondern Drang zur Selbständigkeit die Entschliessung herbeigeführt hatte. Rosalie fühlte sich so beengt im Hause, dass sie z. B. nicht zu singen oder Clavier zu spielen wagte, wenn die Tante in Hörweite war, und dass sie es sorgfältig vermied, dein übrigens betagten Onkel – Bruder ihrer Mutter – etwas vorzuspielen oder vorzusingen, wenn die Tante hinzukommen konnte. Während ich mich bemühte, die Spuren alter Erregungen zu tilgen, entstanden aus diesem Verhältniss zu ihren Gastgebern neue, die endlich auch den Erfolg meiner Behandlung störten und vorzeitig die Cur unterbrachen.

Eines Tages erschien die Patientin bei mir mit einem neuen, kaum 24 Stunden alten Symptom. Sie klagte über ein unangenehmes Prickeln in den Fingerspitzen, das seit gestern alle paar Stunden auftrete

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[150/0156] brachte. Ein tüchtiger Gesangslehrer nahm sich ihrer uneigennützig an und versicherte ihr, dass ihre Stimme sie berechtige, den Beruf einer Sängerin zu wählen. Sie begann nun heimlich Unterricht bei ihm zu nehmen, aber dadurch, dass sie oft mit dem Schnüren im Hals, wie es nach heftigen häuslichen Scenen übrig blieb, zum Sangunterricht wegeilte, festigte sich eine Beziehung zwischen dem Singen und der hysterischen Parästhesie, die schon durch die Organempfindung beim Singen angebahnt war. Der Apparat, über den sie beim Singen frei hätte verfügen sollen, zeigte sich besetzt mit Innervationsresten nach jenen zahlreichen Scenen unterdrückter Erregung. Sie hatte seither das Haus ihres Onkels verlassen, war in eine fremde Stadt gezogen, um der Familie fern zu bleiben, aber das Hinderniss war damit nicht überwunden. Andere hysterische Symptome zeigte das schöne, ungewöhnlich verständige Mädchen nicht. Ich bemühte mich, diese „Retentionshysterie“ durch Reproduciren aller erregenden Eindrücke und nachträgliches Abreagiren zu erledigen. Ich liess sie schimpfen, Reden halten, dem Onkel tüchtig die Wahrheit in's Gesicht sagen u. dgl. Diese Behandlung that ihr auch sehr wohl; leider lebte sie unterdess hier in recht ungünstigen Verhältnissen. Sie hatte kein Glück mit ihren Verwandten. Sie war Gast bei einem anderen Onkel, der sie auch freundlich aufnahm; aber gerade dadurch erregte sie das Missfallen der Tante. Diese Frau vermuthete bei ihrem Manne ein tiefer gehendes Interesse an seiner Nichte und liess es sich angelegen sein, dem Mädchen den Aufenthalt in Wien gründlich zu verleiden. Sie hatte selbst in ihrer Jugend einer Neigung zur Künstlerschaft entsagen müssen und neidete es jetzt der Nichte, dass sie ihr Talent ausbilden konnte, obwohl hier nicht Neigung, sondern Drang zur Selbständigkeit die Entschliessung herbeigeführt hatte. Rosalie fühlte sich so beengt im Hause, dass sie z. B. nicht zu singen oder Clavier zu spielen wagte, wenn die Tante in Hörweite war, und dass sie es sorgfältig vermied, dein übrigens betagten Onkel – Bruder ihrer Mutter – etwas vorzuspielen oder vorzusingen, wenn die Tante hinzukommen konnte. Während ich mich bemühte, die Spuren alter Erregungen zu tilgen, entstanden aus diesem Verhältniss zu ihren Gastgebern neue, die endlich auch den Erfolg meiner Behandlung störten und vorzeitig die Cur unterbrachen. Eines Tages erschien die Patientin bei mir mit einem neuen, kaum 24 Stunden alten Symptom. Sie klagte über ein unangenehmes Prickeln in den Fingerspitzen, das seit gestern alle paar Stunden auftrete

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/156>, abgerufen am 27.04.2024.