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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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damals um gemeine, rheumatische Muskelschmerzen gehandelt hat. Wollte man selbst annehmen, dass dieser erste Schmerzanfall das Ergebniss einer hysterischen Conversion infolge der Ablehnung ihrer damaligen erotischen Gedanken war, so bleibt doch die Thatsache übrig, dass die Schmerzen nach wenigen Tagen verschwanden, so dass die Kranke sich also in der Wirklichkeit anders verhalten hatte, als sie während der Analyse zu zeigen schien. Während der Reproduction der sogenannten ersten Periode begleitete sie alle Erzählungen von der Krankheit und dem Tode des Vaters, von den Eindrücken aus dem Verkehr mit dem ersten Schwager u. dgl. mit Schmerzensäusserungen, während sie zur Zeit, da sie diese Eindrücke erlebte, keine Schmerzen verspürte. Ist das nicht ein Widerspruch, der geeignet ist, das Vertrauen in den aufklärenden Wert einer solchen Analyse recht herabzusetzen?

Ich glaube den Widerspruch lösen zu können, indem ich annehme, die Schmerzen - das Product der Conversion - seien nicht entstanden, während die Kranke die Eindrücke der ersten Periode erlebte, sondern nachträglich, also in der zweiten Periode, als die Kranke diese Eindrücke in ihren Gedanken reproducirte. Die Conversion sei erfolgt nicht an den frischen Eindrücken, sondern an den Erinnerungen derselben. Ich meine sogar, ein solcher Vorgang sei nichts Aussergewöhnliches bei der Hysterie, habe einen regelmässigen Antheil an der Entstehung hysterischer Symptome. Da aber eine solche Behauptung gewiss nicht einleuchtet, werde ich versuchen, sie durch andere Erfahrungen glaubwürdiger zu machen.

Es geschah mir einmal, dass sich während einer derartigen analytischen Behandlung bei einer Kranken ein neues hysterisches Symptom ausbildete, so dass ich dessen Wegräumung am Tage nach seinem Entstehen in Angriff nehmen konnte.

Ich will die Geschichte dieser Kranken in ihren wesentlichen Zügen hier einschieben; sie ist ziemlich einfach und doch nicht ohne Interesse.

Frl. Rosalia H . . ., 23 Jahre alt, seit einigen Jahren bemüht, sich zur Sängerin auszubilden, klagt darüber, dass ihre schöne Stimme ihr in gewissen Lagen nicht gehorcht. Es tritt ein Gefühl von Würgen und Schnüren in der Kehle ein, so dass der Ton wie gepresst klingt; ihr Lehrer hat ihr darum noch nicht gestatten können, sich vor dem Publicum als Sängerin zu zeigen; obwohl diese Unvollkommenheit nur die Mittellage betrifft, so kann sie doch nicht durch einen Fehler ihres Organs erklärt werden; zu Zeiten bleibt die Störung ganz

damals um gemeine, rheumatische Muskelschmerzen gehandelt hat. Wollte man selbst annehmen, dass dieser erste Schmerzanfall das Ergebniss einer hysterischen Conversion infolge der Ablehnung ihrer damaligen erotischen Gedanken war, so bleibt doch die Thatsache übrig, dass die Schmerzen nach wenigen Tagen verschwanden, so dass die Kranke sich also in der Wirklichkeit anders verhalten hatte, als sie während der Analyse zu zeigen schien. Während der Reproduction der sogenannten ersten Periode begleitete sie alle Erzählungen von der Krankheit und dem Tode des Vaters, von den Eindrücken aus dem Verkehr mit dem ersten Schwager u. dgl. mit Schmerzensäusserungen, während sie zur Zeit, da sie diese Eindrücke erlebte, keine Schmerzen verspürte. Ist das nicht ein Widerspruch, der geeignet ist, das Vertrauen in den aufklärenden Wert einer solchen Analyse recht herabzusetzen?

Ich glaube den Widerspruch lösen zu können, indem ich annehme, die Schmerzen – das Product der Conversion – seien nicht entstanden, während die Kranke die Eindrücke der ersten Periode erlebte, sondern nachträglich, also in der zweiten Periode, als die Kranke diese Eindrücke in ihren Gedanken reproducirte. Die Conversion sei erfolgt nicht an den frischen Eindrücken, sondern an den Erinnerungen derselben. Ich meine sogar, ein solcher Vorgang sei nichts Aussergewöhnliches bei der Hysterie, habe einen regelmässigen Antheil an der Entstehung hysterischer Symptome. Da aber eine solche Behauptung gewiss nicht einleuchtet, werde ich versuchen, sie durch andere Erfahrungen glaubwürdiger zu machen.

Es geschah mir einmal, dass sich während einer derartigen analytischen Behandlung bei einer Kranken ein neues hysterisches Symptom ausbildete, so dass ich dessen Wegräumung am Tage nach seinem Entstehen in Angriff nehmen konnte.

Ich will die Geschichte dieser Kranken in ihren wesentlichen Zügen hier einschieben; sie ist ziemlich einfach und doch nicht ohne Interesse.

Frl. Rosalia H . . ., 23 Jahre alt, seit einigen Jahren bemüht, sich zur Sängerin auszubilden, klagt darüber, dass ihre schöne Stimme ihr in gewissen Lagen nicht gehorcht. Es tritt ein Gefühl von Würgen und Schnüren in der Kehle ein, so dass der Ton wie gepresst klingt; ihr Lehrer hat ihr darum noch nicht gestatten können, sich vor dem Publicum als Sängerin zu zeigen; obwohl diese Unvollkommenheit nur die Mittellage betrifft, so kann sie doch nicht durch einen Fehler ihres Organs erklärt werden; zu Zeiten bleibt die Störung ganz

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[148/0154] damals um gemeine, rheumatische Muskelschmerzen gehandelt hat. Wollte man selbst annehmen, dass dieser erste Schmerzanfall das Ergebniss einer hysterischen Conversion infolge der Ablehnung ihrer damaligen erotischen Gedanken war, so bleibt doch die Thatsache übrig, dass die Schmerzen nach wenigen Tagen verschwanden, so dass die Kranke sich also in der Wirklichkeit anders verhalten hatte, als sie während der Analyse zu zeigen schien. Während der Reproduction der sogenannten ersten Periode begleitete sie alle Erzählungen von der Krankheit und dem Tode des Vaters, von den Eindrücken aus dem Verkehr mit dem ersten Schwager u. dgl. mit Schmerzensäusserungen, während sie zur Zeit, da sie diese Eindrücke erlebte, keine Schmerzen verspürte. Ist das nicht ein Widerspruch, der geeignet ist, das Vertrauen in den aufklärenden Wert einer solchen Analyse recht herabzusetzen? Ich glaube den Widerspruch lösen zu können, indem ich annehme, die Schmerzen – das Product der Conversion – seien nicht entstanden, während die Kranke die Eindrücke der ersten Periode erlebte, sondern nachträglich, also in der zweiten Periode, als die Kranke diese Eindrücke in ihren Gedanken reproducirte. Die Conversion sei erfolgt nicht an den frischen Eindrücken, sondern an den Erinnerungen derselben. Ich meine sogar, ein solcher Vorgang sei nichts Aussergewöhnliches bei der Hysterie, habe einen regelmässigen Antheil an der Entstehung hysterischer Symptome. Da aber eine solche Behauptung gewiss nicht einleuchtet, werde ich versuchen, sie durch andere Erfahrungen glaubwürdiger zu machen. Es geschah mir einmal, dass sich während einer derartigen analytischen Behandlung bei einer Kranken ein neues hysterisches Symptom ausbildete, so dass ich dessen Wegräumung am Tage nach seinem Entstehen in Angriff nehmen konnte. Ich will die Geschichte dieser Kranken in ihren wesentlichen Zügen hier einschieben; sie ist ziemlich einfach und doch nicht ohne Interesse. Frl. Rosalia H . . ., 23 Jahre alt, seit einigen Jahren bemüht, sich zur Sängerin auszubilden, klagt darüber, dass ihre schöne Stimme ihr in gewissen Lagen nicht gehorcht. Es tritt ein Gefühl von Würgen und Schnüren in der Kehle ein, so dass der Ton wie gepresst klingt; ihr Lehrer hat ihr darum noch nicht gestatten können, sich vor dem Publicum als Sängerin zu zeigen; obwohl diese Unvollkommenheit nur die Mittellage betrifft, so kann sie doch nicht durch einen Fehler ihres Organs erklärt werden; zu Zeiten bleibt die Störung ganz

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/154>, abgerufen am 27.04.2024.