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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Allerdings eine Anleitung dazu, wie man bei sich eine solche Conversion herstellt, kann ich nicht geben; man macht das offenbar nicht so, wie man mit Absicht eine willkürliche Handlung ausführt; es ist ein Vorgang, der sich unter dem Antrieb des Motivs der Abwehr in einem Individuum vollzieht, wenn dieses die Eignung dazu in seiner Organisation - oder derzeitigen Modifikation - trägt.

Man hat ein Recht, der Theorie näher auf den Leib zu rücken und zu fragen: Was ist es denn, was sich hier in körperlichen Schmerz verwandelt? Die vorsichtige Antwort wird lauten: Etwas, woraus seelischer Schmerz hätte werden können und werden sollen. Will man sich weiter wagen und eine Art von algebraischer Darstellung der Vorstellungsmechanik versuchen, so wird man etwa dem Vorstellungscomplex dieser unbewusst gebliebenen Neigung einen gewissen Affectbetrag zuschreiben und letztere Quantität als das Convertirte bezeichnen. Eine directe Folgerung dieser Auffassung wäre es, dass die "unbewusste Liebe" durch solche Conversion so sehr an Intensität eingebüsst, dass sie zu einer schwachen Vorstellung herabgesunken wäre; ihre Existenz als abgetrennte psychische Gruppe wäre dann erst durch diese Schwächung ermöglicht. Indess ist der vorliegende Fall nicht geeignet, in dieser so heikeln Materie Anschaulichkeit zu gewähren. Er entspricht wahrscheinlich einer bloss unvollständigen Conversion; aus anderen Fällen kann man wahrscheinlich machen, dass auch vollständige Conversionon vorkommen, und dass bei diesen in der That die unverträgliche Vorstellung "verdrängt" worden ist, wie nur eine sehr wenig intensive Vorstellung verdrängt werden kann. Die Kranken versichern nach vollzogener associativer Vereinigung, dass sie sich seit der Entstehung des hysterischen Symptoms in Gedanken nicht mehr mit der unverträglichen Vorstellung beschäftigt haben. -

Ich habe oben behauptet, dass die Kranke bei gewissen Gelegenheiten, wenngleich nur flüchtig, die Liebe zu ihrem Schwager auch bewusst erkannte. Ein solcher Moment war z. B., als ihr am Bette der Schwester der Gedanke durch den Kopf fuhr: "Jetzt ist er frei und Du kannst seine Frau werden." Ich muss die Bedeutung dieser Momente für die Auffassung der ganzen Neurose erörtern. Nun, ich meine, in der Annahme einer "Abwehrhysterie" ist bereits die Forderung enthalten, dass wenigstens ein solcher Moment vorgekommen ist. Das Bewusstsein weiss ja nicht vorher, wann sich eine unverträgliche Vorstellung einstellen wird; die unverträgliche Vorstellung, die später mit ihrem Anhang zur Bildung einer separaten psychischen Gruppe ausgeschlossen

Allerdings eine Anleitung dazu, wie man bei sich eine solche Conversion herstellt, kann ich nicht geben; man macht das offenbar nicht so, wie man mit Absicht eine willkürliche Handlung ausführt; es ist ein Vorgang, der sich unter dem Antrieb des Motivs der Abwehr in einem Individuum vollzieht, wenn dieses die Eignung dazu in seiner Organisation – oder derzeitigen Modifikation – trägt.

Man hat ein Recht, der Theorie näher auf den Leib zu rücken und zu fragen: Was ist es denn, was sich hier in körperlichen Schmerz verwandelt? Die vorsichtige Antwort wird lauten: Etwas, woraus seelischer Schmerz hätte werden können und werden sollen. Will man sich weiter wagen und eine Art von algebraischer Darstellung der Vorstellungsmechanik versuchen, so wird man etwa dem Vorstellungscomplex dieser unbewusst gebliebenen Neigung einen gewissen Affectbetrag zuschreiben und letztere Quantität als das Convertirte bezeichnen. Eine directe Folgerung dieser Auffassung wäre es, dass die „unbewusste Liebe“ durch solche Conversion so sehr an Intensität eingebüsst, dass sie zu einer schwachen Vorstellung herabgesunken wäre; ihre Existenz als abgetrennte psychische Gruppe wäre dann erst durch diese Schwächung ermöglicht. Indess ist der vorliegende Fall nicht geeignet, in dieser so heikeln Materie Anschaulichkeit zu gewähren. Er entspricht wahrscheinlich einer bloss unvollständigen Conversion; aus anderen Fällen kann man wahrscheinlich machen, dass auch vollständige Conversionon vorkommen, und dass bei diesen in der That die unverträgliche Vorstellung „verdrängt“ worden ist, wie nur eine sehr wenig intensive Vorstellung verdrängt werden kann. Die Kranken versichern nach vollzogener associativer Vereinigung, dass sie sich seit der Entstehung des hysterischen Symptoms in Gedanken nicht mehr mit der unverträglichen Vorstellung beschäftigt haben. –

Ich habe oben behauptet, dass die Kranke bei gewissen Gelegenheiten, wenngleich nur flüchtig, die Liebe zu ihrem Schwager auch bewusst erkannte. Ein solcher Moment war z. B., als ihr am Bette der Schwester der Gedanke durch den Kopf fuhr: „Jetzt ist er frei und Du kannst seine Frau werden.“ Ich muss die Bedeutung dieser Momente für die Auffassung der ganzen Neurose erörtern. Nun, ich meine, in der Annahme einer „Abwehrhysterie“ ist bereits die Forderung enthalten, dass wenigstens ein solcher Moment vorgekommen ist. Das Bewusstsein weiss ja nicht vorher, wann sich eine unverträgliche Vorstellung einstellen wird; die unverträgliche Vorstellung, die später mit ihrem Anhang zur Bildung einer separaten psychischen Gruppe ausgeschlossen

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[146/0152] Allerdings eine Anleitung dazu, wie man bei sich eine solche Conversion herstellt, kann ich nicht geben; man macht das offenbar nicht so, wie man mit Absicht eine willkürliche Handlung ausführt; es ist ein Vorgang, der sich unter dem Antrieb des Motivs der Abwehr in einem Individuum vollzieht, wenn dieses die Eignung dazu in seiner Organisation – oder derzeitigen Modifikation – trägt. Man hat ein Recht, der Theorie näher auf den Leib zu rücken und zu fragen: Was ist es denn, was sich hier in körperlichen Schmerz verwandelt? Die vorsichtige Antwort wird lauten: Etwas, woraus seelischer Schmerz hätte werden können und werden sollen. Will man sich weiter wagen und eine Art von algebraischer Darstellung der Vorstellungsmechanik versuchen, so wird man etwa dem Vorstellungscomplex dieser unbewusst gebliebenen Neigung einen gewissen Affectbetrag zuschreiben und letztere Quantität als das Convertirte bezeichnen. Eine directe Folgerung dieser Auffassung wäre es, dass die „unbewusste Liebe“ durch solche Conversion so sehr an Intensität eingebüsst, dass sie zu einer schwachen Vorstellung herabgesunken wäre; ihre Existenz als abgetrennte psychische Gruppe wäre dann erst durch diese Schwächung ermöglicht. Indess ist der vorliegende Fall nicht geeignet, in dieser so heikeln Materie Anschaulichkeit zu gewähren. Er entspricht wahrscheinlich einer bloss unvollständigen Conversion; aus anderen Fällen kann man wahrscheinlich machen, dass auch vollständige Conversionon vorkommen, und dass bei diesen in der That die unverträgliche Vorstellung „verdrängt“ worden ist, wie nur eine sehr wenig intensive Vorstellung verdrängt werden kann. Die Kranken versichern nach vollzogener associativer Vereinigung, dass sie sich seit der Entstehung des hysterischen Symptoms in Gedanken nicht mehr mit der unverträglichen Vorstellung beschäftigt haben. – Ich habe oben behauptet, dass die Kranke bei gewissen Gelegenheiten, wenngleich nur flüchtig, die Liebe zu ihrem Schwager auch bewusst erkannte. Ein solcher Moment war z. B., als ihr am Bette der Schwester der Gedanke durch den Kopf fuhr: „Jetzt ist er frei und Du kannst seine Frau werden.“ Ich muss die Bedeutung dieser Momente für die Auffassung der ganzen Neurose erörtern. Nun, ich meine, in der Annahme einer „Abwehrhysterie“ ist bereits die Forderung enthalten, dass wenigstens ein solcher Moment vorgekommen ist. Das Bewusstsein weiss ja nicht vorher, wann sich eine unverträgliche Vorstellung einstellen wird; die unverträgliche Vorstellung, die später mit ihrem Anhang zur Bildung einer separaten psychischen Gruppe ausgeschlossen

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/152>, abgerufen am 27.04.2024.