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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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nämlich, dass das rechte Bein während unserer Hypnosen schmerzhaft wurde, wenn es sich um Erinnerungen aus der Krankenpflege des Vaters, aus dem Verkehr mit dem Jugendgespielen und um anderes handelte, was in die erste Periode der pathogenen Zeit fiel, während der Schmerz sich am andern, linken Bein meldete, sobald ich eine Erinnerung an die verlorene Schwester, an die beiden Schwäger, kurz, einen Eindruck aus der zweiten Hälfte der Leidensgeschichte erweckt hatte. Durch dieses constante Verhalten aufmerksam gemacht, forschte ich weiter nach und gewann den Eindruck, als ob die Detaillirung hier noch weiter gienge und jeder neue psychische Anlass zu schmerzlichen Empfindungen sich mit einer anderen Stelle der schmerzhaften Area der Beine verknüpft hätte. Die ursprünglich schmerzhafte Stelle am rechten Oberschenkel hatte sich auf die Pflege des Vaters bezogen, von da an war das Schmerzgebiet durch Apposition aus Anlass neuer Traumen gewachsen, so dass hier streng genommen nicht ein einziges körperliches Symptom vorlag, welches mit vielfachen psychischen Erinnerungscomplexen verknüpft war, sondern eine Mehrheit von ähnlichen Symptomen, die bei oberflächlicher Betrachtung zu einem Symptom verschmolzen schienen. Einer Abgrenzung der den einzelnen psychischen Anlässen entsprechenden Schmerzzonen bin ich allerdings nicht nachgegangen, da ich die Aufmerksamkeit der Kranken von diesen Beziehungen abgewendet erfand.

Ich schenkte aber ein weiteres Interesse der Art, wie der ganze Symptomcomplex der Abasie sich über diesen schmerzhaften Zonen aufgebaut haben mochte, und stellte in solcher Absicht verschiedene Fragen wie: Woher rühren die Schmerzen im Gehen, im Stehen, im Liegen?, die sie theils unbeeinflusst, theils unter dem Drucke meiner Hand beantwortete. Dabei ergab sich zweierlei. Einerseits gruppirte sie mir alle mit schmerzhaften Eindrücken verbundenen Scenen, je nachdem sie während derselben gesessen oder gestanden hatte u. dgl. - So z. B. stand sie bei einer Thüre, als man den Vater im Herzanfall nach Hause brachte, und blieb im Schreck wie angewurzelt stehen. An diesen ersten "Schreck im Stehen" schloss sie dann weitere Erinnerungen an bis zur Schreckensscene, da sie wiederum wie gebannt an dem Bett der todten Schwester stand. Die ganze Kette von Reminiscenzen sollte die berechtigte Verknüpfung der Schmerzen mit dem Aufrechtstehen darthun und konnte ja auch als Associationsnachweis gelten; nur musste man der Forderung eingedenk bleiben, dass bei all diesen Gelegenheiten noch ein anderes Moment nachweisbar

nämlich, dass das rechte Bein während unserer Hypnosen schmerzhaft wurde, wenn es sich um Erinnerungen aus der Krankenpflege des Vaters, aus dem Verkehr mit dem Jugendgespielen und um anderes handelte, was in die erste Periode der pathogenen Zeit fiel, während der Schmerz sich am andern, linken Bein meldete, sobald ich eine Erinnerung an die verlorene Schwester, an die beiden Schwäger, kurz, einen Eindruck aus der zweiten Hälfte der Leidensgeschichte erweckt hatte. Durch dieses constante Verhalten aufmerksam gemacht, forschte ich weiter nach und gewann den Eindruck, als ob die Detaillirung hier noch weiter gienge und jeder neue psychische Anlass zu schmerzlichen Empfindungen sich mit einer anderen Stelle der schmerzhaften Area der Beine verknüpft hätte. Die ursprünglich schmerzhafte Stelle am rechten Oberschenkel hatte sich auf die Pflege des Vaters bezogen, von da an war das Schmerzgebiet durch Apposition aus Anlass neuer Traumen gewachsen, so dass hier streng genommen nicht ein einziges körperliches Symptom vorlag, welches mit vielfachen psychischen Erinnerungscomplexen verknüpft war, sondern eine Mehrheit von ähnlichen Symptomen, die bei oberflächlicher Betrachtung zu einem Symptom verschmolzen schienen. Einer Abgrenzung der den einzelnen psychischen Anlässen entsprechenden Schmerzzonen bin ich allerdings nicht nachgegangen, da ich die Aufmerksamkeit der Kranken von diesen Beziehungen abgewendet erfand.

Ich schenkte aber ein weiteres Interesse der Art, wie der ganze Symptomcomplex der Abasie sich über diesen schmerzhaften Zonen aufgebaut haben mochte, und stellte in solcher Absicht verschiedene Fragen wie: Woher rühren die Schmerzen im Gehen, im Stehen, im Liegen?, die sie theils unbeeinflusst, theils unter dem Drucke meiner Hand beantwortete. Dabei ergab sich zweierlei. Einerseits gruppirte sie mir alle mit schmerzhaften Eindrücken verbundenen Scenen, je nachdem sie während derselben gesessen oder gestanden hatte u. dgl. – So z. B. stand sie bei einer Thüre, als man den Vater im Herzanfall nach Hause brachte, und blieb im Schreck wie angewurzelt stehen. An diesen ersten „Schreck im Stehen“ schloss sie dann weitere Erinnerungen an bis zur Schreckensscene, da sie wiederum wie gebannt an dem Bett der todten Schwester stand. Die ganze Kette von Reminiscenzen sollte die berechtigte Verknüpfung der Schmerzen mit dem Aufrechtstehen darthun und konnte ja auch als Associationsnachweis gelten; nur musste man der Forderung eingedenk bleiben, dass bei all diesen Gelegenheiten noch ein anderes Moment nachweisbar

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nämlich, dass das rechte Bein während unserer Hypnosen schmerzhaft wurde, wenn es sich um Erinnerungen aus der Krankenpflege des Vaters, aus dem Verkehr mit dem Jugendgespielen und um anderes handelte, was in die erste Periode der pathogenen Zeit fiel, während der Schmerz sich am andern, linken Bein meldete, sobald ich eine Erinnerung an die verlorene Schwester, an die beiden Schwäger, kurz, einen Eindruck aus der zweiten Hälfte der Leidensgeschichte erweckt hatte. Durch dieses constante Verhalten aufmerksam gemacht, forschte ich weiter nach und gewann den Eindruck, als ob die Detaillirung hier noch weiter gienge und jeder neue psychische Anlass zu schmerzlichen Empfindungen sich mit einer anderen Stelle der schmerzhaften Area der Beine verknüpft hätte. Die ursprünglich schmerzhafte Stelle am rechten Oberschenkel hatte sich auf die Pflege des Vaters bezogen, von da an war das Schmerzgebiet durch Apposition aus Anlass neuer Traumen gewachsen, so dass hier streng genommen nicht ein <hi rendition="#g">einziges</hi> körperliches Symptom vorlag, welches mit vielfachen psychischen Erinnerungscomplexen verknüpft war, sondern eine Mehrheit von ähnlichen Symptomen, die bei oberflächlicher Betrachtung zu einem Symptom verschmolzen schienen. Einer Abgrenzung der den einzelnen psychischen Anlässen entsprechenden Schmerzzonen bin ich allerdings nicht nachgegangen, da ich die Aufmerksamkeit der Kranken von diesen Beziehungen abgewendet erfand.</p>
          <p>Ich schenkte aber ein weiteres Interesse der Art, wie der ganze Symptomcomplex der Abasie sich über diesen schmerzhaften Zonen aufgebaut haben mochte, und stellte in solcher Absicht verschiedene Fragen wie: Woher rühren die Schmerzen im Gehen, im Stehen, im Liegen?, die sie theils unbeeinflusst, theils unter dem Drucke meiner Hand beantwortete. Dabei ergab sich zweierlei. Einerseits gruppirte sie mir alle mit schmerzhaften Eindrücken verbundenen Scenen, je nachdem sie während derselben gesessen oder gestanden hatte u. dgl. &#x2013; So z. B. <hi rendition="#g">stand</hi> sie bei einer Thüre, als man den Vater im Herzanfall nach Hause brachte, und blieb im Schreck wie angewurzelt <hi rendition="#g">stehen</hi>. An diesen ersten &#x201E;Schreck im <hi rendition="#g">Stehen</hi>&#x201C; schloss sie dann weitere Erinnerungen an bis zur Schreckensscene, da sie wiederum wie gebannt an dem Bett der todten Schwester <hi rendition="#g">stand</hi>. Die ganze Kette von Reminiscenzen sollte die berechtigte Verknüpfung der Schmerzen mit dem Aufrechtstehen darthun und konnte ja auch als Associationsnachweis gelten; nur musste man der Forderung eingedenk bleiben, dass bei all diesen Gelegenheiten noch ein anderes Moment nachweisbar
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[130/0136] nämlich, dass das rechte Bein während unserer Hypnosen schmerzhaft wurde, wenn es sich um Erinnerungen aus der Krankenpflege des Vaters, aus dem Verkehr mit dem Jugendgespielen und um anderes handelte, was in die erste Periode der pathogenen Zeit fiel, während der Schmerz sich am andern, linken Bein meldete, sobald ich eine Erinnerung an die verlorene Schwester, an die beiden Schwäger, kurz, einen Eindruck aus der zweiten Hälfte der Leidensgeschichte erweckt hatte. Durch dieses constante Verhalten aufmerksam gemacht, forschte ich weiter nach und gewann den Eindruck, als ob die Detaillirung hier noch weiter gienge und jeder neue psychische Anlass zu schmerzlichen Empfindungen sich mit einer anderen Stelle der schmerzhaften Area der Beine verknüpft hätte. Die ursprünglich schmerzhafte Stelle am rechten Oberschenkel hatte sich auf die Pflege des Vaters bezogen, von da an war das Schmerzgebiet durch Apposition aus Anlass neuer Traumen gewachsen, so dass hier streng genommen nicht ein einziges körperliches Symptom vorlag, welches mit vielfachen psychischen Erinnerungscomplexen verknüpft war, sondern eine Mehrheit von ähnlichen Symptomen, die bei oberflächlicher Betrachtung zu einem Symptom verschmolzen schienen. Einer Abgrenzung der den einzelnen psychischen Anlässen entsprechenden Schmerzzonen bin ich allerdings nicht nachgegangen, da ich die Aufmerksamkeit der Kranken von diesen Beziehungen abgewendet erfand. Ich schenkte aber ein weiteres Interesse der Art, wie der ganze Symptomcomplex der Abasie sich über diesen schmerzhaften Zonen aufgebaut haben mochte, und stellte in solcher Absicht verschiedene Fragen wie: Woher rühren die Schmerzen im Gehen, im Stehen, im Liegen?, die sie theils unbeeinflusst, theils unter dem Drucke meiner Hand beantwortete. Dabei ergab sich zweierlei. Einerseits gruppirte sie mir alle mit schmerzhaften Eindrücken verbundenen Scenen, je nachdem sie während derselben gesessen oder gestanden hatte u. dgl. – So z. B. stand sie bei einer Thüre, als man den Vater im Herzanfall nach Hause brachte, und blieb im Schreck wie angewurzelt stehen. An diesen ersten „Schreck im Stehen“ schloss sie dann weitere Erinnerungen an bis zur Schreckensscene, da sie wiederum wie gebannt an dem Bett der todten Schwester stand. Die ganze Kette von Reminiscenzen sollte die berechtigte Verknüpfung der Schmerzen mit dem Aufrechtstehen darthun und konnte ja auch als Associationsnachweis gelten; nur musste man der Forderung eingedenk bleiben, dass bei all diesen Gelegenheiten noch ein anderes Moment nachweisbar

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/136>, abgerufen am 03.05.2024.