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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Wir erzielten so eine leichte Besserung. Ganz besonders schien sie sich für die schmerzhaften Schläge der Influenzmaschine zu erwärmen, und je stärker diese waren, desto mehr schienen sie die eigenen Schmerzen der Kranken zurückzudrängen. Mein College bereitete unterdess den Boden für eine psychische Behandlung vor, und als ich nach vierwöchentlicher Scheinbehandlung eine solche vorschlug und der Kranken einige Aufschlüsse über das Verfahren und seine Wirkungsweise gab, fand ich rasches Verständniss und nur geringen Widerstand.

Die Arbeit, die ich aber von da an begann, stellte sich als eine der schwersten heraus, die mir je zugefallen waren, und die Schwierigkeit, von dieser Arbeit einen Bericht zu geben, reiht sich den damals überwundenen Schwierigkeiten würdig an. Ich verstand auch lange Zeit nicht, den Zusammenhang zwischen der Leidensgeschichte und dem Leiden zu finden, welches doch durch diese Reihe von Erlebnissen verursacht und determinirt sein sollte.

Wenn man eine derartige kathartische Behandlung unternimmt, wird man sich zuerst die Frage vorlegen: Ist der Kranken Herkunft und Anlass ihres Leidens bekannt? Dann bedarf es wohl keiner besonderen Technik, sie zur Reproduction ihrer Leidensgeschichte zu vermögen; das Interesse, das man ihr bezeugt, das Verständniss, das man sie ahnen lässt, die Hoffnung auf Genesung, die man ihr macht, werden die Kranke bestimmen, ihr Geheimniss aufzugeben. Bei Fräulein Elisabeth war mir von Anfang an wahrscheinlich, dass sie sich der Gründe ihres Leidens bewusst sei, dass sie also nur ein Geheimniss, keinen Fremdkörper im Bewusstsein habe. Man musste, wenn man sie ansah, an die Worte des Dichters denken: "Das Mäskchen da weissagt verborgenen Sinn."1

Ich konnte also zunächst auf die Hypnose verzichten, mit dem Vorbehalt allerdings, mich später der Hypnose zu bedienen, wenn sich im Verlaufe der Beichte Zusammenhänge ergeben sollten, zu deren Klärung ihre Erinnerung etwa nicht ausreichte. So gelangte ich bei dieser ersten vollständigen Analyse einer Hysterie, die ich unternahm, zu einem Verfahren, das ich später zu einer Methode erhob und zielbewusst einleitete, zu einem Verfahren der schichtweisen Ausräumung des pathogenen psychischen Materials welches wir gerne mit der Technik der Ausgrabung einer verschütteten Stadt zu vergleichen pflegten. Ich liess mir zunächst erzählen, was der Kranken bekannt war, achtete sorgfältig

1 Es wird sich ergeben, dass ich mich hierin doch geirrt hatte.

Wir erzielten so eine leichte Besserung. Ganz besonders schien sie sich für die schmerzhaften Schläge der Influenzmaschine zu erwärmen, und je stärker diese waren, desto mehr schienen sie die eigenen Schmerzen der Kranken zurückzudrängen. Mein College bereitete unterdess den Boden für eine psychische Behandlung vor, und als ich nach vierwöchentlicher Scheinbehandlung eine solche vorschlug und der Kranken einige Aufschlüsse über das Verfahren und seine Wirkungsweise gab, fand ich rasches Verständniss und nur geringen Widerstand.

Die Arbeit, die ich aber von da an begann, stellte sich als eine der schwersten heraus, die mir je zugefallen waren, und die Schwierigkeit, von dieser Arbeit einen Bericht zu geben, reiht sich den damals überwundenen Schwierigkeiten würdig an. Ich verstand auch lange Zeit nicht, den Zusammenhang zwischen der Leidensgeschichte und dem Leiden zu finden, welches doch durch diese Reihe von Erlebnissen verursacht und determinirt sein sollte.

Wenn man eine derartige kathartische Behandlung unternimmt, wird man sich zuerst die Frage vorlegen: Ist der Kranken Herkunft und Anlass ihres Leidens bekannt? Dann bedarf es wohl keiner besonderen Technik, sie zur Reproduction ihrer Leidensgeschichte zu vermögen; das Interesse, das man ihr bezeugt, das Verständniss, das man sie ahnen lässt, die Hoffnung auf Genesung, die man ihr macht, werden die Kranke bestimmen, ihr Geheimniss aufzugeben. Bei Fräulein Elisabeth war mir von Anfang an wahrscheinlich, dass sie sich der Gründe ihres Leidens bewusst sei, dass sie also nur ein Geheimniss, keinen Fremdkörper im Bewusstsein habe. Man musste, wenn man sie ansah, an die Worte des Dichters denken: „Das Mäskchen da weissagt verborgenen Sinn.“1

Ich konnte also zunächst auf die Hypnose verzichten, mit dem Vorbehalt allerdings, mich später der Hypnose zu bedienen, wenn sich im Verlaufe der Beichte Zusammenhänge ergeben sollten, zu deren Klärung ihre Erinnerung etwa nicht ausreichte. So gelangte ich bei dieser ersten vollständigen Analyse einer Hysterie, die ich unternahm, zu einem Verfahren, das ich später zu einer Methode erhob und zielbewusst einleitete, zu einem Verfahren der schichtweisen Ausräumung des pathogenen psychischen Materials welches wir gerne mit der Technik der Ausgrabung einer verschütteten Stadt zu vergleichen pflegten. Ich liess mir zunächst erzählen, was der Kranken bekannt war, achtete sorgfältig

1 Es wird sich ergeben, dass ich mich hierin doch geirrt hatte.
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          <p>Wenn man eine derartige kathartische Behandlung unternimmt, wird man sich zuerst die Frage vorlegen: Ist der Kranken Herkunft und Anlass ihres Leidens bekannt? Dann bedarf es wohl keiner besonderen Technik, sie zur Reproduction ihrer Leidensgeschichte zu vermögen; das Interesse, das man ihr bezeugt, das Verständniss, das man sie ahnen lässt, die Hoffnung auf Genesung, die man ihr macht, werden die Kranke bestimmen, ihr Geheimniss aufzugeben. Bei Fräulein Elisabeth war mir von Anfang an wahrscheinlich, dass sie sich der Gründe ihres Leidens bewusst sei, dass sie also nur ein Geheimniss, keinen Fremdkörper im Bewusstsein habe. Man musste, wenn man sie ansah, an die Worte des Dichters denken: &#x201E;Das Mäskchen da weissagt verborgenen Sinn.&#x201C;<note place="foot" n="1">Es wird sich ergeben, dass ich mich hierin doch geirrt hatte.</note></p>
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[119/0125] Wir erzielten so eine leichte Besserung. Ganz besonders schien sie sich für die schmerzhaften Schläge der Influenzmaschine zu erwärmen, und je stärker diese waren, desto mehr schienen sie die eigenen Schmerzen der Kranken zurückzudrängen. Mein College bereitete unterdess den Boden für eine psychische Behandlung vor, und als ich nach vierwöchentlicher Scheinbehandlung eine solche vorschlug und der Kranken einige Aufschlüsse über das Verfahren und seine Wirkungsweise gab, fand ich rasches Verständniss und nur geringen Widerstand. Die Arbeit, die ich aber von da an begann, stellte sich als eine der schwersten heraus, die mir je zugefallen waren, und die Schwierigkeit, von dieser Arbeit einen Bericht zu geben, reiht sich den damals überwundenen Schwierigkeiten würdig an. Ich verstand auch lange Zeit nicht, den Zusammenhang zwischen der Leidensgeschichte und dem Leiden zu finden, welches doch durch diese Reihe von Erlebnissen verursacht und determinirt sein sollte. Wenn man eine derartige kathartische Behandlung unternimmt, wird man sich zuerst die Frage vorlegen: Ist der Kranken Herkunft und Anlass ihres Leidens bekannt? Dann bedarf es wohl keiner besonderen Technik, sie zur Reproduction ihrer Leidensgeschichte zu vermögen; das Interesse, das man ihr bezeugt, das Verständniss, das man sie ahnen lässt, die Hoffnung auf Genesung, die man ihr macht, werden die Kranke bestimmen, ihr Geheimniss aufzugeben. Bei Fräulein Elisabeth war mir von Anfang an wahrscheinlich, dass sie sich der Gründe ihres Leidens bewusst sei, dass sie also nur ein Geheimniss, keinen Fremdkörper im Bewusstsein habe. Man musste, wenn man sie ansah, an die Worte des Dichters denken: „Das Mäskchen da weissagt verborgenen Sinn.“ 1 Ich konnte also zunächst auf die Hypnose verzichten, mit dem Vorbehalt allerdings, mich später der Hypnose zu bedienen, wenn sich im Verlaufe der Beichte Zusammenhänge ergeben sollten, zu deren Klärung ihre Erinnerung etwa nicht ausreichte. So gelangte ich bei dieser ersten vollständigen Analyse einer Hysterie, die ich unternahm, zu einem Verfahren, das ich später zu einer Methode erhob und zielbewusst einleitete, zu einem Verfahren der schichtweisen Ausräumung des pathogenen psychischen Materials welches wir gerne mit der Technik der Ausgrabung einer verschütteten Stadt zu vergleichen pflegten. Ich liess mir zunächst erzählen, was der Kranken bekannt war, achtete sorgfältig 1 Es wird sich ergeben, dass ich mich hierin doch geirrt hatte.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/125>, abgerufen am 04.05.2024.