Frapan, Ilse [i. e. Ilse Akunian]: Flügel auf! Novellen. Berlin, 1895.spät sein, sie zu sehen, leider; aber gleich morgen früh hoffte er die Langentbehrte in die Arme zu schließen. Und es fiel ihm Mörikes liebliches Gedicht ein, wie der früh zu seinem Mädchen kommt, sie aber, "das schlanke Bäumchen", vor dem Spiegel steht " - und wascht sich emsig. O wie lieblich träuft die weiße Stirne, Träuft die Rosenwange Silbernässe," Ja, wer's auch so gut hätte! Er seufzte, da ihm das Bild der Braut in so blumiger Morgenfrische vor Augen trat. "Hangen aufgelöst die süßen Haare, Locker spielen Tücher und Gewänder -" Was wohl die Mama sagen würde zu solch einem Einbruch! Und Toni selbst! Sie war nur siebzehn Jahre alt gewesen, als er sich mit ihr verlobte, aber wie schnell würde sie ihn seiner Wege gewiesen haben, wenn er - - Nun freilich, in einem städtischen wohlgeordneten Haus wär's ja auch kaum denkbar und erhört, solch ein Vorfall wie der in dem Gedicht; so unschuldig reizend dort alles klingt, es ist doch ein weiter, weiter Abstand zwischen Wirklichkeit und Poesie. "Uebrigens, zu denken, daß ich diesen Mörike erst seit vier Wochen kenne - es ist eine Schande! Man bleibt doch ein Barbar in so einem Laboratorium. Gut, daß ich eine spät sein, sie zu sehen, leider; aber gleich morgen früh hoffte er die Langentbehrte in die Arme zu schließen. Und es fiel ihm Mörikes liebliches Gedicht ein, wie der früh zu seinem Mädchen kommt, sie aber, „das schlanke Bäumchen“, vor dem Spiegel steht „ – und wascht sich emsig. O wie lieblich träuft die weiße Stirne, Träuft die Rosenwange Silbernässe,“ Ja, wer’s auch so gut hätte! Er seufzte, da ihm das Bild der Braut in so blumiger Morgenfrische vor Augen trat. „Hangen aufgelöst die süßen Haare, Locker spielen Tücher und Gewänder –“ Was wohl die Mama sagen würde zu solch einem Einbruch! Und Toni selbst! Sie war nur siebzehn Jahre alt gewesen, als er sich mit ihr verlobte, aber wie schnell würde sie ihn seiner Wege gewiesen haben, wenn er – – Nun freilich, in einem städtischen wohlgeordneten Haus wär’s ja auch kaum denkbar und erhört, solch ein Vorfall wie der in dem Gedicht; so unschuldig reizend dort alles klingt, es ist doch ein weiter, weiter Abstand zwischen Wirklichkeit und Poesie. „Uebrigens, zu denken, daß ich diesen Mörike erst seit vier Wochen kenne – es ist eine Schande! Man bleibt doch ein Barbar in so einem Laboratorium. Gut, daß ich eine <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0089" n="81"/> spät sein, sie zu sehen, leider; aber gleich morgen früh hoffte er die Langentbehrte in die Arme zu schließen. Und es fiel ihm Mörikes liebliches Gedicht ein, wie der früh zu seinem Mädchen kommt, sie aber, „das schlanke Bäumchen“, vor dem Spiegel steht</p> <lg type="poem"> <l>„ – und wascht sich emsig.</l><lb/> <l>O wie lieblich träuft die weiße Stirne,</l><lb/> <l>Träuft die Rosenwange Silbernässe,“</l><lb/> </lg> <p>Ja, wer’s auch so gut hätte! Er seufzte, da ihm das Bild der Braut in so blumiger Morgenfrische vor Augen trat.</p> <lg type="poem"> <l>„Hangen aufgelöst die süßen Haare,</l><lb/> <l>Locker spielen Tücher und Gewänder –“</l><lb/> </lg> <p>Was wohl die Mama sagen würde zu solch einem Einbruch! Und Toni selbst! Sie war nur siebzehn Jahre alt gewesen, als er sich mit ihr verlobte, aber wie schnell würde sie ihn seiner Wege gewiesen haben, wenn er – –</p> <p>Nun freilich, in einem städtischen wohlgeordneten Haus wär’s ja auch kaum denkbar und erhört, solch ein Vorfall wie der in dem Gedicht; so unschuldig reizend dort alles klingt, es ist doch ein weiter, weiter Abstand zwischen Wirklichkeit und Poesie. „Uebrigens, zu denken, daß ich diesen Mörike erst seit vier Wochen kenne – es ist eine Schande! Man bleibt doch ein Barbar in so einem Laboratorium. Gut, daß ich eine </p> </div> </body> </text> </TEI> [81/0089]
spät sein, sie zu sehen, leider; aber gleich morgen früh hoffte er die Langentbehrte in die Arme zu schließen. Und es fiel ihm Mörikes liebliches Gedicht ein, wie der früh zu seinem Mädchen kommt, sie aber, „das schlanke Bäumchen“, vor dem Spiegel steht
„ – und wascht sich emsig.
O wie lieblich träuft die weiße Stirne,
Träuft die Rosenwange Silbernässe,“
Ja, wer’s auch so gut hätte! Er seufzte, da ihm das Bild der Braut in so blumiger Morgenfrische vor Augen trat.
„Hangen aufgelöst die süßen Haare,
Locker spielen Tücher und Gewänder –“
Was wohl die Mama sagen würde zu solch einem Einbruch! Und Toni selbst! Sie war nur siebzehn Jahre alt gewesen, als er sich mit ihr verlobte, aber wie schnell würde sie ihn seiner Wege gewiesen haben, wenn er – –
Nun freilich, in einem städtischen wohlgeordneten Haus wär’s ja auch kaum denkbar und erhört, solch ein Vorfall wie der in dem Gedicht; so unschuldig reizend dort alles klingt, es ist doch ein weiter, weiter Abstand zwischen Wirklichkeit und Poesie. „Uebrigens, zu denken, daß ich diesen Mörike erst seit vier Wochen kenne – es ist eine Schande! Man bleibt doch ein Barbar in so einem Laboratorium. Gut, daß ich eine
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