Frapan, Ilse [i. e. Ilse Akunian]: Flügel auf! Novellen. Berlin, 1895.grauenhaft das wohl erst gewesen wäre! Dies entstellte Gesicht, diese funkelnden Augen ganz in der Nähe zu sehen - hilf Himmel! Und man spricht ja auch sogar von Verlobungsküssen. Da nützt nichts, als den Kopf unter das Leintuch stecken, um diese ekelhaften Vorstellungen loszuwerden. Aber es half nicht, es kam ihr sogar in den Sinn, daß eine junge Frau, die manchmal Annita's Tante besuchte, von einem Brautpaar erzählt hatte, das man nur das verschlungene Monogramm nannte, weil es stets so umherging, und daß man ihnen in Gesellschaft nur einen einzigen Stuhl hingestellt hatte! Annita dachte an Frau Severin mit gefalteten Händen. Sie war ihre Beschützerin, ihre Retterin, sie hatte ihrem eigenen Neffen das Haus verboten, damit das fremde Mädchen ruhig darin bleiben konnte. Am andern Morgen hatte Annita gebeten: "Darf ich Mama und Du zu Dir sagen?" Und Frau Severin hatte sie geküßt und geantwortet: "Ja, mein' gute kleine Deern, mit tausend Freuden." An alles das mußte Annita denken und sich wundern, daß ein halbes Jahr so viel ausmachen konnte. Ihr eigener Zorn gegen Adolf war zwar auch verraucht, aber eine geheime Abneigung war um so stärker geworden, und Mama Severins Rührung über das Geschenk und den Schenker kam ihr ganz merkwürdig vor. Adolf war seit jenem Abend nicht mehr grauenhaft das wohl erst gewesen wäre! Dies entstellte Gesicht, diese funkelnden Augen ganz in der Nähe zu sehen – hilf Himmel! Und man spricht ja auch sogar von Verlobungsküssen. Da nützt nichts, als den Kopf unter das Leintuch stecken, um diese ekelhaften Vorstellungen loszuwerden. Aber es half nicht, es kam ihr sogar in den Sinn, daß eine junge Frau, die manchmal Annita’s Tante besuchte, von einem Brautpaar erzählt hatte, das man nur das verschlungene Monogramm nannte, weil es stets so umherging, und daß man ihnen in Gesellschaft nur einen einzigen Stuhl hingestellt hatte! Annita dachte an Frau Severin mit gefalteten Händen. Sie war ihre Beschützerin, ihre Retterin, sie hatte ihrem eigenen Neffen das Haus verboten, damit das fremde Mädchen ruhig darin bleiben konnte. Am andern Morgen hatte Annita gebeten: „Darf ich Mama und Du zu Dir sagen?“ Und Frau Severin hatte sie geküßt und geantwortet: „Ja, mein’ gute kleine Deern, mit tausend Freuden.“ An alles das mußte Annita denken und sich wundern, daß ein halbes Jahr so viel ausmachen konnte. Ihr eigener Zorn gegen Adolf war zwar auch verraucht, aber eine geheime Abneigung war um so stärker geworden, und Mama Severins Rührung über das Geschenk und den Schenker kam ihr ganz merkwürdig vor. Adolf war seit jenem Abend nicht mehr <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0228" n="220"/> grauenhaft das wohl erst gewesen wäre! Dies entstellte Gesicht, diese funkelnden Augen ganz in der Nähe zu sehen – hilf Himmel! Und man spricht ja auch sogar von Verlobungsküssen. Da nützt nichts, als den Kopf unter das Leintuch stecken, um diese ekelhaften Vorstellungen loszuwerden. Aber es half nicht, es kam ihr sogar in den Sinn, daß eine junge Frau, die manchmal Annita’s Tante besuchte, von einem Brautpaar erzählt hatte, das man nur das verschlungene Monogramm nannte, weil es stets so umherging, und daß man ihnen in Gesellschaft nur einen einzigen Stuhl hingestellt hatte! Annita dachte an Frau Severin mit gefalteten Händen. Sie war ihre Beschützerin, ihre Retterin, sie hatte ihrem eigenen Neffen das Haus verboten, damit das fremde Mädchen ruhig darin bleiben konnte. Am andern Morgen hatte Annita gebeten: „Darf ich Mama und Du zu Dir sagen?“ Und Frau Severin hatte sie geküßt und geantwortet: „Ja, mein’ gute kleine Deern, mit tausend Freuden.“</p> <p>An alles das mußte Annita denken und sich wundern, daß ein halbes Jahr so viel ausmachen konnte. Ihr eigener Zorn gegen Adolf war zwar auch verraucht, aber eine geheime Abneigung war um so stärker geworden, und Mama Severins Rührung über das Geschenk und den Schenker kam ihr ganz merkwürdig vor. Adolf war seit jenem Abend nicht mehr </p> </div> </body> </text> </TEI> [220/0228]
grauenhaft das wohl erst gewesen wäre! Dies entstellte Gesicht, diese funkelnden Augen ganz in der Nähe zu sehen – hilf Himmel! Und man spricht ja auch sogar von Verlobungsküssen. Da nützt nichts, als den Kopf unter das Leintuch stecken, um diese ekelhaften Vorstellungen loszuwerden. Aber es half nicht, es kam ihr sogar in den Sinn, daß eine junge Frau, die manchmal Annita’s Tante besuchte, von einem Brautpaar erzählt hatte, das man nur das verschlungene Monogramm nannte, weil es stets so umherging, und daß man ihnen in Gesellschaft nur einen einzigen Stuhl hingestellt hatte! Annita dachte an Frau Severin mit gefalteten Händen. Sie war ihre Beschützerin, ihre Retterin, sie hatte ihrem eigenen Neffen das Haus verboten, damit das fremde Mädchen ruhig darin bleiben konnte. Am andern Morgen hatte Annita gebeten: „Darf ich Mama und Du zu Dir sagen?“ Und Frau Severin hatte sie geküßt und geantwortet: „Ja, mein’ gute kleine Deern, mit tausend Freuden.“
An alles das mußte Annita denken und sich wundern, daß ein halbes Jahr so viel ausmachen konnte. Ihr eigener Zorn gegen Adolf war zwar auch verraucht, aber eine geheime Abneigung war um so stärker geworden, und Mama Severins Rührung über das Geschenk und den Schenker kam ihr ganz merkwürdig vor. Adolf war seit jenem Abend nicht mehr
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