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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

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Und wunderbar! kaum daß sie meine Stimme
vernommen und nur einen Moment forschend zu mir
aufgeblickt hatte, rief sie: "Hardine! Fräulein Har¬
dine!"

Der lauschende Mann konnte einen Laut der
Ueberraschung nicht zurückhalten. Dorothee horchte
gespannt. "Still, still!" flüsterte sie, indem sie das
Bündel unter ihre Decke verbarg. Als aber alles
wieder ruhig geworden war, zog sie es von Neuem
hervor, drückte meine Hand darauf und sagte: "Fühlen
Sie, Fräulein Hardine, wie kalt! Es ist todt, hu, so
kalt, so kalt, das arme Kind, todt!"

"Es ist kein Kind, Dorothee," sagte ich, "es ist
ein kalter Stein, der lange auf Deinem Herzen gelegen
hat. Ich will ihn von Dir nehmen. Siehst Du, nun
ist er fort, nun wird Dir leicht werden, Dorothee. --

Sie ließ es willig geschehen, daß ich das Bündel
von ihr nahm; aber sie wimmerte immerzu: "Todt,
todt, das arme Kind todt!" Einen Augenblick schwankte
ich noch; dann wagte ich es, dem Lauscher zum Trotz,
auf alle Gefahr. Ich drückte die Hand der jammernden
Mutter an mein Herz und sprach mit erhobener
Stimme: -- "Das Kind ist nicht todt, Dorothee.
Gott ist ein Vater der Waisen, der Knabe lebt!" --

Und wunderbar! kaum daß ſie meine Stimme
vernommen und nur einen Moment forſchend zu mir
aufgeblickt hatte, rief ſie: „Hardine! Fräulein Har¬
dine!“

Der lauſchende Mann konnte einen Laut der
Ueberraſchung nicht zurückhalten. Dorothee horchte
geſpannt. „Still, ſtill!“ flüſterte ſie, indem ſie das
Bündel unter ihre Decke verbarg. Als aber alles
wieder ruhig geworden war, zog ſie es von Neuem
hervor, drückte meine Hand darauf und ſagte: „Fühlen
Sie, Fräulein Hardine, wie kalt! Es iſt todt, hu, ſo
kalt, ſo kalt, das arme Kind, todt!“

„Es iſt kein Kind, Dorothee,“ ſagte ich, „es iſt
ein kalter Stein, der lange auf Deinem Herzen gelegen
hat. Ich will ihn von Dir nehmen. Siehſt Du, nun
iſt er fort, nun wird Dir leicht werden, Dorothee. —

Sie ließ es willig geſchehen, daß ich das Bündel
von ihr nahm; aber ſie wimmerte immerzu: „Todt,
todt, das arme Kind todt!“ Einen Augenblick ſchwankte
ich noch; dann wagte ich es, dem Lauſcher zum Trotz,
auf alle Gefahr. Ich drückte die Hand der jammernden
Mutter an mein Herz und ſprach mit erhobener
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[205/0209] Und wunderbar! kaum daß ſie meine Stimme vernommen und nur einen Moment forſchend zu mir aufgeblickt hatte, rief ſie: „Hardine! Fräulein Har¬ dine!“ Der lauſchende Mann konnte einen Laut der Ueberraſchung nicht zurückhalten. Dorothee horchte geſpannt. „Still, ſtill!“ flüſterte ſie, indem ſie das Bündel unter ihre Decke verbarg. Als aber alles wieder ruhig geworden war, zog ſie es von Neuem hervor, drückte meine Hand darauf und ſagte: „Fühlen Sie, Fräulein Hardine, wie kalt! Es iſt todt, hu, ſo kalt, ſo kalt, das arme Kind, todt!“ „Es iſt kein Kind, Dorothee,“ ſagte ich, „es iſt ein kalter Stein, der lange auf Deinem Herzen gelegen hat. Ich will ihn von Dir nehmen. Siehſt Du, nun iſt er fort, nun wird Dir leicht werden, Dorothee. — Sie ließ es willig geſchehen, daß ich das Bündel von ihr nahm; aber ſie wimmerte immerzu: „Todt, todt, das arme Kind todt!“ Einen Augenblick ſchwankte ich noch; dann wagte ich es, dem Lauſcher zum Trotz, auf alle Gefahr. Ich drückte die Hand der jammernden Mutter an mein Herz und ſprach mit erhobener Stimme: — „Das Kind iſt nicht todt, Dorothee. Gott iſt ein Vater der Waiſen, der Knabe lebt!“ —

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/209>, abgerufen am 28.03.2024.