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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

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Wir saßen nach diesen Worten eine Weile schwei¬
gend nebeneinander, dann fuhr sie in der Mittheilung
fort, die meine Frage unterbrochen hatte. "Der Probst
beredete mich, die Nacht in der Stadt in meinem al¬
ten Zimmer zu verbringen. Dort wollte er mir am
Morgen den Knaben unter irgend einem Vorwande
zuführen. Er begleitete mich nur bis an's Stadtthor,
da ich in seiner Gesellschaft nicht gesehen und viel¬
leicht erkannt werden sollte. Weder er, noch ich ahnte
ja das Schicksal, das dieses Haus betroffen hat. Ich
sah Licht im unteren Zimmer und fand die Hausthür
unverschlossen. Ich hätte mich still hinaufschleichen
mögen. Aber konnte ich unbemerkt bleiben? So trat
ich ein. Der alte Soldat schlief im Stuhle neben
dem verhüllten Lager und erwachte nicht. Ich hob
das Tuch und sah in das todte Antlitz des Mannes,
den ich mehr als meinen eigenen Vater geliebt hatte.
Ich stieg die Treppe hinan und beugte mich noch ein¬
mal über Eine, die ich verehrt und die der Tod be¬
reits erfaßte. Nun wollte ich mich ungesehen aus dem
Hause entfernen, Ihnen meinen Anblick ersparen, heute,
immerdar. Der Krampf überfiel mich. Vergeben
Sie mir, Fräulein von Reckenburg."

Ich kann es nicht mit Worten aussprechen, wie

Wir ſaßen nach dieſen Worten eine Weile ſchwei¬
gend nebeneinander, dann fuhr ſie in der Mittheilung
fort, die meine Frage unterbrochen hatte. „Der Probſt
beredete mich, die Nacht in der Stadt in meinem al¬
ten Zimmer zu verbringen. Dort wollte er mir am
Morgen den Knaben unter irgend einem Vorwande
zuführen. Er begleitete mich nur bis an's Stadtthor,
da ich in ſeiner Geſellſchaft nicht geſehen und viel¬
leicht erkannt werden ſollte. Weder er, noch ich ahnte
ja das Schickſal, das dieſes Haus betroffen hat. Ich
ſah Licht im unteren Zimmer und fand die Hausthür
unverſchloſſen. Ich hätte mich ſtill hinaufſchleichen
mögen. Aber konnte ich unbemerkt bleiben? So trat
ich ein. Der alte Soldat ſchlief im Stuhle neben
dem verhüllten Lager und erwachte nicht. Ich hob
das Tuch und ſah in das todte Antlitz des Mannes,
den ich mehr als meinen eigenen Vater geliebt hatte.
Ich ſtieg die Treppe hinan und beugte mich noch ein¬
mal über Eine, die ich verehrt und die der Tod be¬
reits erfaßte. Nun wollte ich mich ungeſehen aus dem
Hauſe entfernen, Ihnen meinen Anblick erſparen, heute,
immerdar. Der Krampf überfiel mich. Vergeben
Sie mir, Fräulein von Reckenburg.“

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[137/0141] Wir ſaßen nach dieſen Worten eine Weile ſchwei¬ gend nebeneinander, dann fuhr ſie in der Mittheilung fort, die meine Frage unterbrochen hatte. „Der Probſt beredete mich, die Nacht in der Stadt in meinem al¬ ten Zimmer zu verbringen. Dort wollte er mir am Morgen den Knaben unter irgend einem Vorwande zuführen. Er begleitete mich nur bis an's Stadtthor, da ich in ſeiner Geſellſchaft nicht geſehen und viel¬ leicht erkannt werden ſollte. Weder er, noch ich ahnte ja das Schickſal, das dieſes Haus betroffen hat. Ich ſah Licht im unteren Zimmer und fand die Hausthür unverſchloſſen. Ich hätte mich ſtill hinaufſchleichen mögen. Aber konnte ich unbemerkt bleiben? So trat ich ein. Der alte Soldat ſchlief im Stuhle neben dem verhüllten Lager und erwachte nicht. Ich hob das Tuch und ſah in das todte Antlitz des Mannes, den ich mehr als meinen eigenen Vater geliebt hatte. Ich ſtieg die Treppe hinan und beugte mich noch ein¬ mal über Eine, die ich verehrt und die der Tod be¬ reits erfaßte. Nun wollte ich mich ungeſehen aus dem Hauſe entfernen, Ihnen meinen Anblick erſparen, heute, immerdar. Der Krampf überfiel mich. Vergeben Sie mir, Fräulein von Reckenburg.“ Ich kann es nicht mit Worten ausſprechen, wie

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/141>, abgerufen am 20.04.2024.