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Forster, Georg: Johann Reinhold Forster's [...] Reise um die Welt. Bd. 1. Berlin, 1778.

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in den Jahren 1772 bis 1775.
gen, zu morden fortgefahren hatte. Er sagte im Verhör aus, daß ihm das1773.
Novem-
ber.

Fleisch junger Leute vorzüglich gut geschmeckt habe, und eben das ließ sich auch
aus den Mienen und Zeichen der Neu-Seeländer schließen. Ein altes Weib
in der Provinz Matogroßo in Brasilien, gestand dem damaligen portugiesischen
Gouverneur Chevalier Pinto, der jetzt portugiesischer Gesandter zu London ist,
daß sie mehrmalen Menschenfleisch gegessen, daß es ihr ungemein gut geschmeckt
habe, und daß sie auch noch ferner dergleichen essen möchte, besonders junges Kna-
benfleisch. Würde es aber nicht abgeschmackt seyn, wenn man aus diesen
Beyspielen folgern wollte, daß die Deutschen und die Brasilianer, ja über-
haupt irgend eine andere Nation, Menschen umzubringen, und sich mit dem
Fleische der Erschlagnen etwas zu Gute zu thun pflegen? Eine solche Ge-
wohnheit kann ja mit der gesellschaftlichen Verfassung der Menschen nicht bestehen.
Wir müssen also der Veranlassung dazu auf einem andern Wege nachspühren.
Man weis, daß sehr geringe Ursachen oft die wichtigsten Begebenheiten auf dem
Erdboden veranlaßt, und daß unbedeutende Zänkereyen die Menschen sehr oft
bis zu einem unglaublichen Grad gegen einander erbittert haben. Eben so be-
kannt ist es, daß die Rachsucht bey wilden Völkern durchgängig eine heftige Lei-
denschaft ist, und oft zu einer Raserey ausartet, in welcher sie zu den unerhör-
testen Ausschweifungen aufgelegt sind. Wer weiß also, ob die ersten Men-
schenfresser die Körper ihrer Feinde nicht aus bloßer Wuth gefressen haben, da-
mit gleichsam nicht das geringste von denselben übrig bleiben mögte? Wenn
sie nun überdem fanden, daß das Fleisch gesund und wohlschmeckend sey, so dür-
fen wir uns wohl nicht wundern, daß sie endlich eine Gewohnheit daraus ge-
macht und die Erschlagenen allemal gefressen haben: Denn, so sehr es auch
unsrer Erziehung zuwider seyn mag, so ist es doch, an und für sich, weder un-
natürlich noch strafbar Menschenfleisch zu essen. Nur um deswillen ist es
zu verbannen, weil die geselligen Empfindungen der Menschenliebe und des Mit-
leids dabey so leicht verloren gehen können. Da aber ohne diese keine mensch-
liche Gesellschaft bestehen kann; so hat der erste Schritt zur Cultur bey allen Völ-
kern dieser seyn müssen, daß man dem Menschenfressen entsagt und
Abscheu dafür zu erregen gesucht hat. Wir sind keine Cannibalen, gleichwohl
finden wir es weder grausam noch unnatürlich zu Felde zu gehen, und uns

C c c 3

in den Jahren 1772 bis 1775.
gen, zu morden fortgefahren hatte. Er ſagte im Verhoͤr aus, daß ihm das1773.
Novem-
ber.

Fleiſch junger Leute vorzuͤglich gut geſchmeckt habe, und eben das ließ ſich auch
aus den Mienen und Zeichen der Neu-Seelaͤnder ſchließen. Ein altes Weib
in der Provinz Matogroßo in Braſilien, geſtand dem damaligen portugieſiſchen
Gouverneur Chevalier Pinto, der jetzt portugieſiſcher Geſandter zu London iſt,
daß ſie mehrmalen Menſchenfleiſch gegeſſen, daß es ihr ungemein gut geſchmeckt
habe, und daß ſie auch noch ferner dergleichen eſſen moͤchte, beſonders junges Kna-
benfleiſch. Wuͤrde es aber nicht abgeſchmackt ſeyn, wenn man aus dieſen
Beyſpielen folgern wollte, daß die Deutſchen und die Braſilianer, ja uͤber-
haupt irgend eine andere Nation, Menſchen umzubringen, und ſich mit dem
Fleiſche der Erſchlagnen etwas zu Gute zu thun pflegen? Eine ſolche Ge-
wohnheit kann ja mit der geſellſchaftlichen Verfaſſung der Menſchen nicht beſtehen.
Wir muͤſſen alſo der Veranlaſſung dazu auf einem andern Wege nachſpuͤhren.
Man weis, daß ſehr geringe Urſachen oft die wichtigſten Begebenheiten auf dem
Erdboden veranlaßt, und daß unbedeutende Zaͤnkereyen die Menſchen ſehr oft
bis zu einem unglaublichen Grad gegen einander erbittert haben. Eben ſo be-
kannt iſt es, daß die Rachſucht bey wilden Voͤlkern durchgaͤngig eine heftige Lei-
denſchaft iſt, und oft zu einer Raſerey ausartet, in welcher ſie zu den unerhoͤr-
teſten Ausſchweifungen aufgelegt ſind. Wer weiß alſo, ob die erſten Men-
ſchenfreſſer die Koͤrper ihrer Feinde nicht aus bloßer Wuth gefreſſen haben, da-
mit gleichſam nicht das geringſte von denſelben uͤbrig bleiben moͤgte? Wenn
ſie nun uͤberdem fanden, daß das Fleiſch geſund und wohlſchmeckend ſey, ſo duͤr-
fen wir uns wohl nicht wundern, daß ſie endlich eine Gewohnheit daraus ge-
macht und die Erſchlagenen allemal gefreſſen haben: Denn, ſo ſehr es auch
unſrer Erziehung zuwider ſeyn mag, ſo iſt es doch, an und fuͤr ſich, weder un-
natuͤrlich noch ſtrafbar Menſchenfleiſch zu eſſen. Nur um deswillen iſt es
zu verbannen, weil die geſelligen Empfindungen der Menſchenliebe und des Mit-
leids dabey ſo leicht verloren gehen koͤnnen. Da aber ohne dieſe keine menſch-
liche Geſellſchaft beſtehen kann; ſo hat der erſte Schritt zur Cultur bey allen Voͤl-
kern dieſer ſeyn muͤſſen, daß man dem Menſchenfreſſen entſagt und
Abſcheu dafuͤr zu erregen geſucht hat. Wir ſind keine Cannibalen, gleichwohl
finden wir es weder grauſam noch unnatuͤrlich zu Felde zu gehen, und uns

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[389/0448] in den Jahren 1772 bis 1775. gen, zu morden fortgefahren hatte. Er ſagte im Verhoͤr aus, daß ihm das Fleiſch junger Leute vorzuͤglich gut geſchmeckt habe, und eben das ließ ſich auch aus den Mienen und Zeichen der Neu-Seelaͤnder ſchließen. Ein altes Weib in der Provinz Matogroßo in Braſilien, geſtand dem damaligen portugieſiſchen Gouverneur Chevalier Pinto, der jetzt portugieſiſcher Geſandter zu London iſt, daß ſie mehrmalen Menſchenfleiſch gegeſſen, daß es ihr ungemein gut geſchmeckt habe, und daß ſie auch noch ferner dergleichen eſſen moͤchte, beſonders junges Kna- benfleiſch. Wuͤrde es aber nicht abgeſchmackt ſeyn, wenn man aus dieſen Beyſpielen folgern wollte, daß die Deutſchen und die Braſilianer, ja uͤber- haupt irgend eine andere Nation, Menſchen umzubringen, und ſich mit dem Fleiſche der Erſchlagnen etwas zu Gute zu thun pflegen? Eine ſolche Ge- wohnheit kann ja mit der geſellſchaftlichen Verfaſſung der Menſchen nicht beſtehen. Wir muͤſſen alſo der Veranlaſſung dazu auf einem andern Wege nachſpuͤhren. Man weis, daß ſehr geringe Urſachen oft die wichtigſten Begebenheiten auf dem Erdboden veranlaßt, und daß unbedeutende Zaͤnkereyen die Menſchen ſehr oft bis zu einem unglaublichen Grad gegen einander erbittert haben. Eben ſo be- kannt iſt es, daß die Rachſucht bey wilden Voͤlkern durchgaͤngig eine heftige Lei- denſchaft iſt, und oft zu einer Raſerey ausartet, in welcher ſie zu den unerhoͤr- teſten Ausſchweifungen aufgelegt ſind. Wer weiß alſo, ob die erſten Men- ſchenfreſſer die Koͤrper ihrer Feinde nicht aus bloßer Wuth gefreſſen haben, da- mit gleichſam nicht das geringſte von denſelben uͤbrig bleiben moͤgte? Wenn ſie nun uͤberdem fanden, daß das Fleiſch geſund und wohlſchmeckend ſey, ſo duͤr- fen wir uns wohl nicht wundern, daß ſie endlich eine Gewohnheit daraus ge- macht und die Erſchlagenen allemal gefreſſen haben: Denn, ſo ſehr es auch unſrer Erziehung zuwider ſeyn mag, ſo iſt es doch, an und fuͤr ſich, weder un- natuͤrlich noch ſtrafbar Menſchenfleiſch zu eſſen. Nur um deswillen iſt es zu verbannen, weil die geſelligen Empfindungen der Menſchenliebe und des Mit- leids dabey ſo leicht verloren gehen koͤnnen. Da aber ohne dieſe keine menſch- liche Geſellſchaft beſtehen kann; ſo hat der erſte Schritt zur Cultur bey allen Voͤl- kern dieſer ſeyn muͤſſen, daß man dem Menſchenfreſſen entſagt und Abſcheu dafuͤr zu erregen geſucht hat. Wir ſind keine Cannibalen, gleichwohl finden wir es weder grauſam noch unnatuͤrlich zu Felde zu gehen, und uns 1773. Novem- ber. C c c 3

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Zitationshilfe: Forster, Georg: Johann Reinhold Forster's [...] Reise um die Welt. Bd. 1. Berlin, 1778, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/forster_reise01_1778/448>, abgerufen am 02.06.2024.