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Forkel, Johann Nikolaus: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig, 1802.

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sie eigene Erfindungen versuchen zu lassen. Ihr Gefühl für Reinigkeit, Ordnung und Zusammenhang in den Stimmen mußte erst an andern Erfindungen geschärft und gleichsam zu einer Gewohnheit werden, ehe er ihnen zutrauete, dieselben Eigenschaften ihren eigenen Erfindungen geben zu können.

Ueberdieß setzte er bey allen seinen Compositionsschülern die Fähigkeit, musikalisch denken zu können, voraus. Wer diese nicht hatte, erhielt von ihm den aufrichtigen Rath, mit der Composition sich nicht zu beschäftigen. Daher fing er auch so wohl mit seinen Söhnen als andern Schülern das Compositions-Studium nicht eher an, bis er Versuche von ihnen gesehen hatte, worin er diese Fähigkeit, oder das, was man musikalisches Genie nennt, zu bemerken glaubte. Wenn sodann die schon erwähnten Vorbereitungen in der Harmonie geendigt waren, nahm er die Lehre von den Fugen vor, und machte mit zweystimmigen den Anfang u.s.w. In allen diesen und andern Compositionsübungen hielt er seine Schüler strenge an, 1) ohne Clavier, aus freyem Geiste zu componiren. Diejenigen, welche es anders machen wollten, schalt er Clavier-Ritter. 2) Ein stetes Augenmerk so wohl auf den Zusammenhang jeder einzelnen Stimme für und in sich, als auf ihr Verhältniß gegen die mit ihr verbundenen und zugleich fortlaufenden Stimmen zu haben. Keine, auch nicht eine Mittelstimme durfte abbrechen, ehe das, was sie zu sagen hatte, vollständig gesagt war. Jeder Ton mußte seine Beziehung auf einen vorhergehenden haben; erschien einer, dem nicht anzusehen war, woher er kam, oder wohin er wollte, so wurde er als ein Verdächtiger ohne Anstand verwiesen. Dieser hohe Grad von Genauigkeit in der Behandlung jeder einzelnen Stimme ist es eben, was die Bachische Harmonie zu einer vielfachen Melodie macht. Das unordentliche Untereinanderwerfen der Stimmen, so daß ein Ton, welcher in den Tenor gehört nun in den Alt geworfen wird, und umgekehrt; ferner das unzeitige Einfallen mehrerer Töne bey einzelnen Harmonien, die, wie vom Himmel gefallen, die angenommene Anzahl der Stimmen auf einer einzelnen Stelle plötzlich vermehren, auf der folgenden Stelle aber wieder verschwinden, und auf keine Weise zum Ganzen gehören, kurz das, was Seb. Bach mit dem Worte Mantschen (sudeln, Töne und Stimmen unordentlich unter einander mengen) bezeichnet haben soll, findet sich weder bey ihm selbst, noch bey irgend einem seiner Schüler. Er sah seine Stimmen gleichsam als Personen an, die sich wie

sie eigene Erfindungen versuchen zu lassen. Ihr Gefühl für Reinigkeit, Ordnung und Zusammenhang in den Stimmen mußte erst an andern Erfindungen geschärft und gleichsam zu einer Gewohnheit werden, ehe er ihnen zutrauete, dieselben Eigenschaften ihren eigenen Erfindungen geben zu können.

Ueberdieß setzte er bey allen seinen Compositionsschülern die Fähigkeit, musikalisch denken zu können, voraus. Wer diese nicht hatte, erhielt von ihm den aufrichtigen Rath, mit der Composition sich nicht zu beschäftigen. Daher fing er auch so wohl mit seinen Söhnen als andern Schülern das Compositions-Studium nicht eher an, bis er Versuche von ihnen gesehen hatte, worin er diese Fähigkeit, oder das, was man musikalisches Genie nennt, zu bemerken glaubte. Wenn sodann die schon erwähnten Vorbereitungen in der Harmonie geendigt waren, nahm er die Lehre von den Fugen vor, und machte mit zweystimmigen den Anfang u.s.w. In allen diesen und andern Compositionsübungen hielt er seine Schüler strenge an, 1) ohne Clavier, aus freyem Geiste zu componiren. Diejenigen, welche es anders machen wollten, schalt er Clavier-Ritter. 2) Ein stetes Augenmerk so wohl auf den Zusammenhang jeder einzelnen Stimme für und in sich, als auf ihr Verhältniß gegen die mit ihr verbundenen und zugleich fortlaufenden Stimmen zu haben. Keine, auch nicht eine Mittelstimme durfte abbrechen, ehe das, was sie zu sagen hatte, vollständig gesagt war. Jeder Ton mußte seine Beziehung auf einen vorhergehenden haben; erschien einer, dem nicht anzusehen war, woher er kam, oder wohin er wollte, so wurde er als ein Verdächtiger ohne Anstand verwiesen. Dieser hohe Grad von Genauigkeit in der Behandlung jeder einzelnen Stimme ist es eben, was die Bachische Harmonie zu einer vielfachen Melodie macht. Das unordentliche Untereinanderwerfen der Stimmen, so daß ein Ton, welcher in den Tenor gehört nun in den Alt geworfen wird, und umgekehrt; ferner das unzeitige Einfallen mehrerer Töne bey einzelnen Harmonien, die, wie vom Himmel gefallen, die angenommene Anzahl der Stimmen auf einer einzelnen Stelle plötzlich vermehren, auf der folgenden Stelle aber wieder verschwinden, und auf keine Weise zum Ganzen gehören, kurz das, was Seb. Bach mit dem Worte Mantschen (sudeln, Töne und Stimmen unordentlich unter einander mengen) bezeichnet haben soll, findet sich weder bey ihm selbst, noch bey irgend einem seiner Schüler. Er sah seine Stimmen gleichsam als Personen an, die sich wie

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[40/0050] sie eigene Erfindungen versuchen zu lassen. Ihr Gefühl für Reinigkeit, Ordnung und Zusammenhang in den Stimmen mußte erst an andern Erfindungen geschärft und gleichsam zu einer Gewohnheit werden, ehe er ihnen zutrauete, dieselben Eigenschaften ihren eigenen Erfindungen geben zu können. Ueberdieß setzte er bey allen seinen Compositionsschülern die Fähigkeit, musikalisch denken zu können, voraus. Wer diese nicht hatte, erhielt von ihm den aufrichtigen Rath, mit der Composition sich nicht zu beschäftigen. Daher fing er auch so wohl mit seinen Söhnen als andern Schülern das Compositions-Studium nicht eher an, bis er Versuche von ihnen gesehen hatte, worin er diese Fähigkeit, oder das, was man musikalisches Genie nennt, zu bemerken glaubte. Wenn sodann die schon erwähnten Vorbereitungen in der Harmonie geendigt waren, nahm er die Lehre von den Fugen vor, und machte mit zweystimmigen den Anfang u.s.w. In allen diesen und andern Compositionsübungen hielt er seine Schüler strenge an, 1) ohne Clavier, aus freyem Geiste zu componiren. Diejenigen, welche es anders machen wollten, schalt er Clavier-Ritter. 2) Ein stetes Augenmerk so wohl auf den Zusammenhang jeder einzelnen Stimme für und in sich, als auf ihr Verhältniß gegen die mit ihr verbundenen und zugleich fortlaufenden Stimmen zu haben. Keine, auch nicht eine Mittelstimme durfte abbrechen, ehe das, was sie zu sagen hatte, vollständig gesagt war. Jeder Ton mußte seine Beziehung auf einen vorhergehenden haben; erschien einer, dem nicht anzusehen war, woher er kam, oder wohin er wollte, so wurde er als ein Verdächtiger ohne Anstand verwiesen. Dieser hohe Grad von Genauigkeit in der Behandlung jeder einzelnen Stimme ist es eben, was die Bachische Harmonie zu einer vielfachen Melodie macht. Das unordentliche Untereinanderwerfen der Stimmen, so daß ein Ton, welcher in den Tenor gehört nun in den Alt geworfen wird, und umgekehrt; ferner das unzeitige Einfallen mehrerer Töne bey einzelnen Harmonien, die, wie vom Himmel gefallen, die angenommene Anzahl der Stimmen auf einer einzelnen Stelle plötzlich vermehren, auf der folgenden Stelle aber wieder verschwinden, und auf keine Weise zum Ganzen gehören, kurz das, was Seb. Bach mit dem Worte Mantschen (sudeln, Töne und Stimmen unordentlich unter einander mengen) bezeichnet haben soll, findet sich weder bey ihm selbst, noch bey irgend einem seiner Schüler. Er sah seine Stimmen gleichsam als Personen an, die sich wie

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Zitationshilfe: Forkel, Johann Nikolaus: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig, 1802, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/forkel_bach_1802/50>, abgerufen am 25.04.2024.