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Forkel, Johann Nikolaus: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig, 1802.

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hinlänglicher Anzahl vorhanden, auch außerdem noch nicht geschmeidig genug waren, so suchte er beyden Mängeln zunächst durch eine Behandlung der Harmonie abzuhelfen, die, so sehr sie auch ihrer eigentlichen Natur und Bestimmung angemessen ist, doch ihm allein eigen war.

So lange die Sprache der Musik noch bloß melodische Ausdrücke, oder bloß nach einander folgende Tonverbindungen hat, ist sie noch arm zu nennen. Durch hinzugefügte Baßtöne, wodurch ihr Verhältniß zu den Tonarten und den darin liegenden Accorden etwas minder zweydeutig wird, gewinnt sie nicht so wohl an Reichthum als an Bestimmtheit. Eine auf solche Art begleitete Melodie, wenn auch nicht bloß Baßtöne, sondern durch Mittelstimmen sogar die vollen Accorde angegeben waren, wurde von unsern Vorfahren mit Recht noch immer Homophonie genannt. Ganz anders verhält sichs, wenn zwey Melodien so mit einander verwebt werden, daß sie gleichsam wie zwey verschiedene Personen gleichen Standes und gleicher Bildung sich mit einander unterreden. Dort war die Begleitung untergeordnet, mußte der erstern als vornehmern Stimme nur dienen. Hier ist kein solcher Unterschied, und diese Art von Vereinigung zweyer Melodien gibt Veranlassung zu neuen Tonverbindungen und dadurch zur Vermehrung des Reichthums an Kunstausdrücken. So wie mehrere Stimmen hinzu gefügt, und auf eine eben so freye ununtergeordnete Art mit einander verwebt werden, nimmt der Reichthum an Kunstausdrücken noch mehr zu, und wird endlich, wenn verschiedenes Zeitmaß und die unendliche Mannigfaltigkeit der Rhythmen hinzu kommt, unerschöpflich. Die Harmonie ist also nicht bloß als Begleitung einer einfachen Melodie, sondern als eigentliches Vermehrungsmittel unserer Kunstausdrücke, oder unsers musikalischen Sprachreichthums zu betrachten. Sie muß aber auch alsdann, wenn sie ein solches Vermehrungsmittel seyn soll, nicht in bloßer Begleitung, sondern in der Verwebung mehrerer wirklichen Melodien bestehen, deren jede das Wort bald oben, bald in der Mitte und bald unten führt und führen kann.

Aus einer solchen Verwebung mehrerer Melodien, die alle so sangbar sind, daß jede zu ihrer Zeit als Oberstimme erscheinen kann, und wirklich erscheint, besteht die Joh. Seb. Bachische Harmonie in allen Werken, die er ungefähr von dem Jahre 1720, oder von seinem 35sten Lebensjahre an, bis an sein Ende verfertiget hat. Er

hinlänglicher Anzahl vorhanden, auch außerdem noch nicht geschmeidig genug waren, so suchte er beyden Mängeln zunächst durch eine Behandlung der Harmonie abzuhelfen, die, so sehr sie auch ihrer eigentlichen Natur und Bestimmung angemessen ist, doch ihm allein eigen war.

So lange die Sprache der Musik noch bloß melodische Ausdrücke, oder bloß nach einander folgende Tonverbindungen hat, ist sie noch arm zu nennen. Durch hinzugefügte Baßtöne, wodurch ihr Verhältniß zu den Tonarten und den darin liegenden Accorden etwas minder zweydeutig wird, gewinnt sie nicht so wohl an Reichthum als an Bestimmtheit. Eine auf solche Art begleitete Melodie, wenn auch nicht bloß Baßtöne, sondern durch Mittelstimmen sogar die vollen Accorde angegeben waren, wurde von unsern Vorfahren mit Recht noch immer Homophonie genannt. Ganz anders verhält sichs, wenn zwey Melodien so mit einander verwebt werden, daß sie gleichsam wie zwey verschiedene Personen gleichen Standes und gleicher Bildung sich mit einander unterreden. Dort war die Begleitung untergeordnet, mußte der erstern als vornehmern Stimme nur dienen. Hier ist kein solcher Unterschied, und diese Art von Vereinigung zweyer Melodien gibt Veranlassung zu neuen Tonverbindungen und dadurch zur Vermehrung des Reichthums an Kunstausdrücken. So wie mehrere Stimmen hinzu gefügt, und auf eine eben so freye ununtergeordnete Art mit einander verwebt werden, nimmt der Reichthum an Kunstausdrücken noch mehr zu, und wird endlich, wenn verschiedenes Zeitmaß und die unendliche Mannigfaltigkeit der Rhythmen hinzu kommt, unerschöpflich. Die Harmonie ist also nicht bloß als Begleitung einer einfachen Melodie, sondern als eigentliches Vermehrungsmittel unserer Kunstausdrücke, oder unsers musikalischen Sprachreichthums zu betrachten. Sie muß aber auch alsdann, wenn sie ein solches Vermehrungsmittel seyn soll, nicht in bloßer Begleitung, sondern in der Verwebung mehrerer wirklichen Melodien bestehen, deren jede das Wort bald oben, bald in der Mitte und bald unten führt und führen kann.

Aus einer solchen Verwebung mehrerer Melodien, die alle so sangbar sind, daß jede zu ihrer Zeit als Oberstimme erscheinen kann, und wirklich erscheint, besteht die Joh. Seb. Bachische Harmonie in allen Werken, die er ungefähr von dem Jahre 1720, oder von seinem 35sten Lebensjahre an, bis an sein Ende verfertiget hat. Er

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[25/0035] hinlänglicher Anzahl vorhanden, auch außerdem noch nicht geschmeidig genug waren, so suchte er beyden Mängeln zunächst durch eine Behandlung der Harmonie abzuhelfen, die, so sehr sie auch ihrer eigentlichen Natur und Bestimmung angemessen ist, doch ihm allein eigen war. So lange die Sprache der Musik noch bloß melodische Ausdrücke, oder bloß nach einander folgende Tonverbindungen hat, ist sie noch arm zu nennen. Durch hinzugefügte Baßtöne, wodurch ihr Verhältniß zu den Tonarten und den darin liegenden Accorden etwas minder zweydeutig wird, gewinnt sie nicht so wohl an Reichthum als an Bestimmtheit. Eine auf solche Art begleitete Melodie, wenn auch nicht bloß Baßtöne, sondern durch Mittelstimmen sogar die vollen Accorde angegeben waren, wurde von unsern Vorfahren mit Recht noch immer Homophonie genannt. Ganz anders verhält sichs, wenn zwey Melodien so mit einander verwebt werden, daß sie gleichsam wie zwey verschiedene Personen gleichen Standes und gleicher Bildung sich mit einander unterreden. Dort war die Begleitung untergeordnet, mußte der erstern als vornehmern Stimme nur dienen. Hier ist kein solcher Unterschied, und diese Art von Vereinigung zweyer Melodien gibt Veranlassung zu neuen Tonverbindungen und dadurch zur Vermehrung des Reichthums an Kunstausdrücken. So wie mehrere Stimmen hinzu gefügt, und auf eine eben so freye ununtergeordnete Art mit einander verwebt werden, nimmt der Reichthum an Kunstausdrücken noch mehr zu, und wird endlich, wenn verschiedenes Zeitmaß und die unendliche Mannigfaltigkeit der Rhythmen hinzu kommt, unerschöpflich. Die Harmonie ist also nicht bloß als Begleitung einer einfachen Melodie, sondern als eigentliches Vermehrungsmittel unserer Kunstausdrücke, oder unsers musikalischen Sprachreichthums zu betrachten. Sie muß aber auch alsdann, wenn sie ein solches Vermehrungsmittel seyn soll, nicht in bloßer Begleitung, sondern in der Verwebung mehrerer wirklichen Melodien bestehen, deren jede das Wort bald oben, bald in der Mitte und bald unten führt und führen kann. Aus einer solchen Verwebung mehrerer Melodien, die alle so sangbar sind, daß jede zu ihrer Zeit als Oberstimme erscheinen kann, und wirklich erscheint, besteht die Joh. Seb. Bachische Harmonie in allen Werken, die er ungefähr von dem Jahre 1720, oder von seinem 35sten Lebensjahre an, bis an sein Ende verfertiget hat. Er

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Zitationshilfe: Forkel, Johann Nikolaus: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig, 1802, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/forkel_bach_1802/35>, abgerufen am 18.04.2024.