umher. Es war so reizend, daß ich selbst das Journallesen vergaß, womit ich damals meine Zeit nur allzu gern vertrödelte. Doch nein, nicht vertrödelte. Die Journale paßten ganz genau zu mir, waren mir um einen Schritt voraus, und von einer derartigen Lektüre hat man viel viel mehr, als von solcher, die einem über den Kopf geht. Es ist ein Unsinn, jungen Leuten immer mit dem "Besten" zu kommen. Man hat sich in das Beste hineinzuwachsen, und das dauert oft recht lange. Schadet auch nichts. Vor allem ist es ganz unnatürlich, mit Goethe zu beginnen. Ich bin glücklich, mit Freiligrath begonnen zu haben.
Um acht oder halb neun war ich dann wieder zurück und an meinem Platz. In der ersten Stunde gab es noch wenig zu thun. Aber bald danach kamen die Doktoren und verschrieben ihre Rezepte. Freilich gab es auch solche, die wenig Praxis hatten und die sich nur einfanden, um sich an einem großen Lesepulte, das für sie hergerichtet war, in die verschiedenen Leipziger Zeitungen zu vertiefen. Für sie war die Apotheke blos Lesehalle, Doktor-Börse, Klub-Lokal. Unter den Aerzten, die zu dieser Gruppe gehörten, interessierten mich besonders zwei, ein Dr. Reuter und ein Dr. Adler. Reuter, ein sehr hübscher, eleganter Herr, war ausgesprochener Sachse, liebte mich aber, weil ich ihm Tag für Tag Gelegenheit gab,
umher. Es war so reizend, daß ich selbst das Journallesen vergaß, womit ich damals meine Zeit nur allzu gern vertrödelte. Doch nein, nicht vertrödelte. Die Journale paßten ganz genau zu mir, waren mir um einen Schritt voraus, und von einer derartigen Lektüre hat man viel viel mehr, als von solcher, die einem über den Kopf geht. Es ist ein Unsinn, jungen Leuten immer mit dem „Besten“ zu kommen. Man hat sich in das Beste hineinzuwachsen, und das dauert oft recht lange. Schadet auch nichts. Vor allem ist es ganz unnatürlich, mit Goethe zu beginnen. Ich bin glücklich, mit Freiligrath begonnen zu haben.
Um acht oder halb neun war ich dann wieder zurück und an meinem Platz. In der ersten Stunde gab es noch wenig zu thun. Aber bald danach kamen die Doktoren und verschrieben ihre Rezepte. Freilich gab es auch solche, die wenig Praxis hatten und die sich nur einfanden, um sich an einem großen Lesepulte, das für sie hergerichtet war, in die verschiedenen Leipziger Zeitungen zu vertiefen. Für sie war die Apotheke blos Lesehalle, Doktor-Börse, Klub-Lokal. Unter den Aerzten, die zu dieser Gruppe gehörten, interessierten mich besonders zwei, ein Dr. Reuter und ein Dr. Adler. Reuter, ein sehr hübscher, eleganter Herr, war ausgesprochener Sachse, liebte mich aber, weil ich ihm Tag für Tag Gelegenheit gab,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0130"n="121"/>
umher. Es war so reizend, daß ich selbst das Journallesen vergaß, womit ich damals meine Zeit nur allzu gern vertrödelte. Doch nein, nicht vertrödelte. Die Journale paßten ganz genau zu mir, waren mir um einen Schritt voraus, und von einer derartigen Lektüre hat man viel viel mehr, als von solcher, die einem über den Kopf geht. Es ist ein Unsinn, jungen Leuten immer mit dem „Besten“ zu kommen. Man hat sich in das Beste hineinzuwachsen, und das dauert oft recht lange. Schadet auch nichts. Vor allem ist es ganz unnatürlich, mit Goethe zu beginnen. Ich bin glücklich, mit Freiligrath begonnen zu haben.</p><lb/><p>Um acht oder halb neun war ich dann wieder zurück und an meinem Platz. In der ersten Stunde gab es noch wenig zu thun. Aber bald danach kamen die Doktoren und verschrieben ihre Rezepte. Freilich gab es auch solche, die wenig Praxis hatten und die sich nur einfanden, um sich an einem großen Lesepulte, das für sie hergerichtet war, in die verschiedenen Leipziger Zeitungen zu vertiefen. Für sie war die Apotheke blos Lesehalle, Doktor-Börse, Klub-Lokal. Unter den Aerzten, die zu dieser Gruppe gehörten, interessierten mich besonders zwei, ein <hirendition="#aq">Dr</hi>. Reuter und ein <hirendition="#aq">Dr</hi>. Adler. Reuter, ein sehr hübscher, eleganter Herr, war ausgesprochener Sachse, liebte mich aber, weil ich ihm Tag für Tag Gelegenheit gab,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[121/0130]
umher. Es war so reizend, daß ich selbst das Journallesen vergaß, womit ich damals meine Zeit nur allzu gern vertrödelte. Doch nein, nicht vertrödelte. Die Journale paßten ganz genau zu mir, waren mir um einen Schritt voraus, und von einer derartigen Lektüre hat man viel viel mehr, als von solcher, die einem über den Kopf geht. Es ist ein Unsinn, jungen Leuten immer mit dem „Besten“ zu kommen. Man hat sich in das Beste hineinzuwachsen, und das dauert oft recht lange. Schadet auch nichts. Vor allem ist es ganz unnatürlich, mit Goethe zu beginnen. Ich bin glücklich, mit Freiligrath begonnen zu haben.
Um acht oder halb neun war ich dann wieder zurück und an meinem Platz. In der ersten Stunde gab es noch wenig zu thun. Aber bald danach kamen die Doktoren und verschrieben ihre Rezepte. Freilich gab es auch solche, die wenig Praxis hatten und die sich nur einfanden, um sich an einem großen Lesepulte, das für sie hergerichtet war, in die verschiedenen Leipziger Zeitungen zu vertiefen. Für sie war die Apotheke blos Lesehalle, Doktor-Börse, Klub-Lokal. Unter den Aerzten, die zu dieser Gruppe gehörten, interessierten mich besonders zwei, ein Dr. Reuter und ein Dr. Adler. Reuter, ein sehr hübscher, eleganter Herr, war ausgesprochener Sachse, liebte mich aber, weil ich ihm Tag für Tag Gelegenheit gab,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. 1. Aufl. Berlin, 1898, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_zwanzig_1898/130>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.