Fontane, Theodor: Jenseit des Tweed. Bilder und Briefe aus Schottland. Berlin, 1860.muß starke Nerven gehabt haben, daß sie nicht vor dem Gedanken erschrak, ihr Kind diese grauenhafte Luftreise machen zu lassen. Daß der junge Prinz sie glücklich machte und wohlbehalten unten ankam, mag nachträglich wie ein Zeichen gedeutet werden, daß er, im Gegensatz zu den Geschicken seiner Familie, in der von jeher ein früher und unnatürlicher Tod die Regel war, bestimmt war, zu leben. Ich habe Edinburg-Castle mehrfach mit dem Tower verglichen und es gegen den Letzteren zurückgestellt. Gewiß mit Recht. Aber eines hat es voraus, das ist die Schönheit seiner Lage. Auch vom Tower, zumal von den kleinen Eckthürmen des White-Towers aus, genießt man einer reizenden Aussicht auf die City, das Themsetreiben und die gegenüberliegenden Surrey-Ufer, aber auch der eingefleischteste "Cockney" - und wäre er aus dem vorschriftsmäßigen Bezirk, innerhalb dessen man die Glocken von Bow-Church hört - würde schwerlich den Muth haben, die Tower-Aussicht mit jenem Panorama zu vergleichen, das man von Edinburg-Castle aus vor Augen hat. Zur Rechten stehen der Calton Hill und die Salisbury Craigs wie ein Paar Wächter unmittelbar vor den Thoren der Stadt, linkshin dehnt sich eine lachende Landschaft aus, unten, den Fuß des Hügels mit einer Curve fast umschreibend, ziehen sich die Linien der Glasgow-Eisenbahn, vor uns aber steigt die Neustadt mit ihren Plätzen und Palästen, mit ihren Kirchen und Statuen auf, bis endlich die dünner werdenden Linien muß starke Nerven gehabt haben, daß sie nicht vor dem Gedanken erschrak, ihr Kind diese grauenhafte Luftreise machen zu lassen. Daß der junge Prinz sie glücklich machte und wohlbehalten unten ankam, mag nachträglich wie ein Zeichen gedeutet werden, daß er, im Gegensatz zu den Geschicken seiner Familie, in der von jeher ein früher und unnatürlicher Tod die Regel war, bestimmt war, zu leben. Ich habe Edinburg-Castle mehrfach mit dem Tower verglichen und es gegen den Letzteren zurückgestellt. Gewiß mit Recht. Aber eines hat es voraus, das ist die Schönheit seiner Lage. Auch vom Tower, zumal von den kleinen Eckthürmen des White-Towers aus, genießt man einer reizenden Aussicht auf die City, das Themsetreiben und die gegenüberliegenden Surrey-Ufer, aber auch der eingefleischteste „Cockney“ – und wäre er aus dem vorschriftsmäßigen Bezirk, innerhalb dessen man die Glocken von Bow-Church hört – würde schwerlich den Muth haben, die Tower-Aussicht mit jenem Panorama zu vergleichen, das man von Edinburg-Castle aus vor Augen hat. Zur Rechten stehen der Calton Hill und die Salisbury Craigs wie ein Paar Wächter unmittelbar vor den Thoren der Stadt, linkshin dehnt sich eine lachende Landschaft aus, unten, den Fuß des Hügels mit einer Curve fast umschreibend, ziehen sich die Linien der Glasgow-Eisenbahn, vor uns aber steigt die Neustadt mit ihren Plätzen und Palästen, mit ihren Kirchen und Statuen auf, bis endlich die dünner werdenden Linien <TEI> <text> <body> <div> <div> <p><pb facs="#f0071" n="57"/> muß starke Nerven gehabt haben, daß sie nicht vor dem Gedanken erschrak, ihr Kind diese grauenhafte Luftreise machen zu lassen. Daß der junge Prinz sie glücklich machte und wohlbehalten unten ankam, mag nachträglich wie ein Zeichen gedeutet werden, daß er, im Gegensatz zu den Geschicken seiner Familie, in der von jeher ein früher und unnatürlicher Tod die Regel war, <hi rendition="#g">bestimmt war, zu leben</hi>.</p><lb/> <p>Ich habe Edinburg-Castle mehrfach mit dem Tower verglichen und es gegen den Letzteren zurückgestellt. Gewiß mit Recht. Aber eines hat es voraus, das ist die Schönheit seiner Lage. Auch vom Tower, zumal von den kleinen Eckthürmen des White-Towers aus, genießt man einer reizenden Aussicht auf die City, das Themsetreiben und die gegenüberliegenden Surrey-Ufer, aber auch der eingefleischteste „Cockney“ – und wäre er aus dem vorschriftsmäßigen Bezirk, innerhalb dessen man die Glocken von Bow-Church hört – würde schwerlich den Muth haben, die Tower-Aussicht mit jenem Panorama zu vergleichen, das man von Edinburg-Castle aus vor Augen hat. Zur Rechten stehen der Calton Hill und die Salisbury Craigs wie ein Paar Wächter unmittelbar vor den Thoren der Stadt, linkshin dehnt sich eine lachende Landschaft aus, unten, den Fuß des Hügels mit einer Curve fast umschreibend, ziehen sich die Linien der Glasgow-Eisenbahn, vor uns aber steigt die Neustadt mit ihren Plätzen und Palästen, mit ihren Kirchen und Statuen auf, bis endlich die dünner werdenden Linien<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [57/0071]
muß starke Nerven gehabt haben, daß sie nicht vor dem Gedanken erschrak, ihr Kind diese grauenhafte Luftreise machen zu lassen. Daß der junge Prinz sie glücklich machte und wohlbehalten unten ankam, mag nachträglich wie ein Zeichen gedeutet werden, daß er, im Gegensatz zu den Geschicken seiner Familie, in der von jeher ein früher und unnatürlicher Tod die Regel war, bestimmt war, zu leben.
Ich habe Edinburg-Castle mehrfach mit dem Tower verglichen und es gegen den Letzteren zurückgestellt. Gewiß mit Recht. Aber eines hat es voraus, das ist die Schönheit seiner Lage. Auch vom Tower, zumal von den kleinen Eckthürmen des White-Towers aus, genießt man einer reizenden Aussicht auf die City, das Themsetreiben und die gegenüberliegenden Surrey-Ufer, aber auch der eingefleischteste „Cockney“ – und wäre er aus dem vorschriftsmäßigen Bezirk, innerhalb dessen man die Glocken von Bow-Church hört – würde schwerlich den Muth haben, die Tower-Aussicht mit jenem Panorama zu vergleichen, das man von Edinburg-Castle aus vor Augen hat. Zur Rechten stehen der Calton Hill und die Salisbury Craigs wie ein Paar Wächter unmittelbar vor den Thoren der Stadt, linkshin dehnt sich eine lachende Landschaft aus, unten, den Fuß des Hügels mit einer Curve fast umschreibend, ziehen sich die Linien der Glasgow-Eisenbahn, vor uns aber steigt die Neustadt mit ihren Plätzen und Palästen, mit ihren Kirchen und Statuen auf, bis endlich die dünner werdenden Linien
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Zitationshilfe: | Fontane, Theodor: Jenseit des Tweed. Bilder und Briefe aus Schottland. Berlin, 1860, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_tweed_1860/71>, abgerufen am 22.07.2024. |