Fontane, Theodor: Von vor und nach der Reise. 2. Aufl. Berlin, 1894.Zug die Steinstufen heraufkommen, erst die Chorknaben, mit Kerzen und Weihrauchbecken, und dann der Geistliche in seinem Ornat. Dahinter aber der Sarg, der von sechs Trägern, zu deren Seite sechs andere gingen, getragen wurde. Und hinter dem Sarg her kamen die Leidtragenden und zwischen den Gräbern hin bewegte sich alles auf die Kirchhofskapelle zu. "Sollen wir uns anschließen?" "Nein," antwortete sie. "Ich denke, wir bleiben, wo wir sind; es ist mir, als müßt' es mich dadrinnen erdrücken. Aber mit unserem Ohre wollen wir folgen, die Thür steht auf und die Luft ist so still. Und ich glaube, wenn wir aufhorchen, so hören wir alles." Und dabei flog ein Schmetterling über die Gräber hin und aus der Kirche her hörte man die Grabresponsorien. Er nahm ihre Hand und sagte: "Die Tote drinnen vorm Altar predigt uns die Vergänglichkeit aller Dinge, gleichviel ob wir in der Jugend stehen oder nicht. Uns gehört nur die Stunde. Und eine Stunde, wenn sie glücklich ist, ist viel. Nicht das Maß der Zeit entscheidet, wohl aber das Maß des Glücks. Und nun frag' ich Sie, sind wir zu alt um glücklich zu sein?" Zug die Steinstufen heraufkommen, erst die Chorknaben, mit Kerzen und Weihrauchbecken, und dann der Geistliche in seinem Ornat. Dahinter aber der Sarg, der von sechs Trägern, zu deren Seite sechs andere gingen, getragen wurde. Und hinter dem Sarg her kamen die Leidtragenden und zwischen den Gräbern hin bewegte sich alles auf die Kirchhofskapelle zu. „Sollen wir uns anschließen?“ „Nein,“ antwortete sie. „Ich denke, wir bleiben, wo wir sind; es ist mir, als müßt’ es mich dadrinnen erdrücken. Aber mit unserem Ohre wollen wir folgen, die Thür steht auf und die Luft ist so still. Und ich glaube, wenn wir aufhorchen, so hören wir alles.“ Und dabei flog ein Schmetterling über die Gräber hin und aus der Kirche her hörte man die Grabresponsorien. Er nahm ihre Hand und sagte: „Die Tote drinnen vorm Altar predigt uns die Vergänglichkeit aller Dinge, gleichviel ob wir in der Jugend stehen oder nicht. Uns gehört nur die Stunde. Und eine Stunde, wenn sie glücklich ist, ist viel. Nicht das Maß der Zeit entscheidet, wohl aber das Maß des Glücks. Und nun frag’ ich Sie, sind wir zu alt um glücklich zu sein?“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0080" n="78"/> Zug die Steinstufen heraufkommen, erst die Chorknaben, mit Kerzen und Weihrauchbecken, und dann der Geistliche in seinem Ornat. Dahinter aber der Sarg, der von sechs Trägern, zu deren Seite sechs andere gingen, getragen wurde. Und hinter dem Sarg her kamen die Leidtragenden und zwischen den Gräbern hin bewegte sich alles auf die Kirchhofskapelle zu.</p><lb/> <p>„Sollen wir uns anschließen?“</p><lb/> <p>„Nein,“ antwortete sie. „Ich denke, wir bleiben, wo wir sind; es ist mir, als müßt’ es mich dadrinnen erdrücken. Aber mit unserem Ohre wollen wir folgen, die Thür steht auf und die Luft ist so still. Und ich glaube, wenn wir aufhorchen, so hören wir alles.“</p><lb/> <p>Und dabei flog ein Schmetterling über die Gräber hin und aus der Kirche her hörte man die Grabresponsorien.</p><lb/> <p>Er nahm ihre Hand und sagte: „Die Tote drinnen vorm Altar predigt uns die Vergänglichkeit aller Dinge, gleichviel ob wir in der Jugend stehen oder nicht. Uns gehört nur die Stunde. Und eine Stunde, wenn sie glücklich ist, ist viel. Nicht das Maß der <hi rendition="#g">Zeit</hi> entscheidet, wohl aber das Maß des <hi rendition="#g">Glücks</hi>. Und nun frag’ ich Sie, sind wir zu alt um glücklich zu sein?“</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [78/0080]
Zug die Steinstufen heraufkommen, erst die Chorknaben, mit Kerzen und Weihrauchbecken, und dann der Geistliche in seinem Ornat. Dahinter aber der Sarg, der von sechs Trägern, zu deren Seite sechs andere gingen, getragen wurde. Und hinter dem Sarg her kamen die Leidtragenden und zwischen den Gräbern hin bewegte sich alles auf die Kirchhofskapelle zu.
„Sollen wir uns anschließen?“
„Nein,“ antwortete sie. „Ich denke, wir bleiben, wo wir sind; es ist mir, als müßt’ es mich dadrinnen erdrücken. Aber mit unserem Ohre wollen wir folgen, die Thür steht auf und die Luft ist so still. Und ich glaube, wenn wir aufhorchen, so hören wir alles.“
Und dabei flog ein Schmetterling über die Gräber hin und aus der Kirche her hörte man die Grabresponsorien.
Er nahm ihre Hand und sagte: „Die Tote drinnen vorm Altar predigt uns die Vergänglichkeit aller Dinge, gleichviel ob wir in der Jugend stehen oder nicht. Uns gehört nur die Stunde. Und eine Stunde, wenn sie glücklich ist, ist viel. Nicht das Maß der Zeit entscheidet, wohl aber das Maß des Glücks. Und nun frag’ ich Sie, sind wir zu alt um glücklich zu sein?“
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Zitationshilfe: | Fontane, Theodor: Von vor und nach der Reise. 2. Aufl. Berlin, 1894, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_reise_1894/80>, abgerufen am 16.02.2025. |