Fontane, Theodor: Von vor und nach der Reise. 2. Aufl. Berlin, 1894.wenden?" heißt es von Weihnachten bis Ostern; viele Menschen betrachten elf Monate des Jahres nur als eine Vorbereitung auf den zwölften, nur als die Leiter, die auf die Höhe des Daseins führt. Um dieses Zwölftels willen wird gelebt, für dieses Zwölftel wird gedacht und gedarbt; die Wohnung wird immer enger und die Herrschaft des Schlafsofas immer souverainer, aber "der Juli bringt es wieder ein". Ein staubgrauer Reise-Anzug schwebt vor der angenehm erregten Phantasie der Tochter, während die Mutter dem verlegenen Oberhaupt der Familie zuflüstert: "Vergiß nicht, daß Du mir immer noch die Hochzeitsreise schuldest." So hofft es und heißt es in vielen tausend Familien. Wie sich die Kinder auf den Christbaum freuen, so freuen sich die Erwachsenen auf Mitsommerzeit; die Anzeigen der Saisonbillets werden begieriger gesucht als die Weihnachts-Annoncen; elf Monate muß man leben, den zwölften will man leben. Jede Prosa-Existenz sehnt sich danach, alljährlich einmal in poetischer Blüte zu stehen. Die Mode und die Eitelkeit haben ihren starken Anteil an dieser Erscheinung, aber in den weitaus meisten Fällen liegt ein Bedürfnis vor. Was der Schlaf im engen Kreise der 24 Stunden ist, das ist das Reisen in dem weiten Kreise der 365 Tage. wenden?“ heißt es von Weihnachten bis Ostern; viele Menschen betrachten elf Monate des Jahres nur als eine Vorbereitung auf den zwölften, nur als die Leiter, die auf die Höhe des Daseins führt. Um dieses Zwölftels willen wird gelebt, für dieses Zwölftel wird gedacht und gedarbt; die Wohnung wird immer enger und die Herrschaft des Schlafsofas immer souverainer, aber „der Juli bringt es wieder ein“. Ein staubgrauer Reise-Anzug schwebt vor der angenehm erregten Phantasie der Tochter, während die Mutter dem verlegenen Oberhaupt der Familie zuflüstert: „Vergiß nicht, daß Du mir immer noch die Hochzeitsreise schuldest.“ So hofft es und heißt es in vielen tausend Familien. Wie sich die Kinder auf den Christbaum freuen, so freuen sich die Erwachsenen auf Mitsommerzeit; die Anzeigen der Saisonbillets werden begieriger gesucht als die Weihnachts-Annoncen; elf Monate muß man leben, den zwölften will man leben. Jede Prosa-Existenz sehnt sich danach, alljährlich einmal in poetischer Blüte zu stehen. Die Mode und die Eitelkeit haben ihren starken Anteil an dieser Erscheinung, aber in den weitaus meisten Fällen liegt ein Bedürfnis vor. Was der Schlaf im engen Kreise der 24 Stunden ist, das ist das Reisen in dem weiten Kreise der 365 Tage. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0006" n="4"/><choice><sic>wendeu</sic><corr>wenden</corr></choice>?“ heißt es von Weihnachten bis Ostern; viele Menschen betrachten elf Monate des Jahres nur als eine Vorbereitung auf den zwölften, nur als die Leiter, die auf die Höhe des Daseins führt. <hi rendition="#g">Um</hi> dieses Zwölftels willen wird gelebt, <hi rendition="#g">für</hi> dieses Zwölftel wird gedacht und gedarbt; die Wohnung wird immer enger und die Herrschaft des Schlafsofas immer souverainer, aber „der Juli bringt es wieder ein“. Ein staubgrauer Reise-Anzug schwebt vor der angenehm erregten Phantasie der Tochter, während die Mutter dem verlegenen Oberhaupt der Familie zuflüstert: „Vergiß nicht, daß Du mir immer noch die Hochzeitsreise schuldest.“ So hofft es und heißt es in vielen tausend Familien. Wie sich die Kinder auf den Christbaum freuen, so freuen sich die Erwachsenen auf Mitsommerzeit; die Anzeigen der Saisonbillets werden begieriger gesucht als die Weihnachts-Annoncen; elf Monate <hi rendition="#g">muß</hi> man leben, den zwölften <hi rendition="#g">will</hi> man leben. Jede Prosa-Existenz sehnt sich danach, alljährlich einmal in poetischer Blüte zu stehen.</p><lb/> <p>Die Mode und die Eitelkeit haben ihren starken Anteil an dieser Erscheinung, aber in den weitaus meisten Fällen liegt ein <hi rendition="#g">Bedürfnis</hi> vor. Was der Schlaf im engen Kreise der 24 Stunden ist, das ist das Reisen in dem weiten Kreise der 365 Tage. </p> </div> </body> </text> </TEI> [4/0006]
wenden?“ heißt es von Weihnachten bis Ostern; viele Menschen betrachten elf Monate des Jahres nur als eine Vorbereitung auf den zwölften, nur als die Leiter, die auf die Höhe des Daseins führt. Um dieses Zwölftels willen wird gelebt, für dieses Zwölftel wird gedacht und gedarbt; die Wohnung wird immer enger und die Herrschaft des Schlafsofas immer souverainer, aber „der Juli bringt es wieder ein“. Ein staubgrauer Reise-Anzug schwebt vor der angenehm erregten Phantasie der Tochter, während die Mutter dem verlegenen Oberhaupt der Familie zuflüstert: „Vergiß nicht, daß Du mir immer noch die Hochzeitsreise schuldest.“ So hofft es und heißt es in vielen tausend Familien. Wie sich die Kinder auf den Christbaum freuen, so freuen sich die Erwachsenen auf Mitsommerzeit; die Anzeigen der Saisonbillets werden begieriger gesucht als die Weihnachts-Annoncen; elf Monate muß man leben, den zwölften will man leben. Jede Prosa-Existenz sehnt sich danach, alljährlich einmal in poetischer Blüte zu stehen.
Die Mode und die Eitelkeit haben ihren starken Anteil an dieser Erscheinung, aber in den weitaus meisten Fällen liegt ein Bedürfnis vor. Was der Schlaf im engen Kreise der 24 Stunden ist, das ist das Reisen in dem weiten Kreise der 365 Tage.
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(2014-01-22T15:28:28Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2014-01-22T15:28:28Z)
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2014-01-22T15:28:28Z)
Weitere Informationen:Theodor Fontane: Von vor und nach der Reise. Plaudereien und kleine Geschichten. Hrsg. von Walter Hettche und Gabriele Radecke. Berlin 2007 [= Große Brandenburger Ausgabe, Das erzählerische Werk, Bd. 19]: Bereitstellung der Texttranskription (mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags Berlin). Anmerkungen zur Transkription:
Auslassungszeichen im Text werden einheitlich als U+2026 <…> (HORIZONTAL ELLIPSIS) wiedergegeben.
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