Fontane, Theodor: Von vor und nach der Reise. 2. Aufl. Berlin, 1894.naives avis au lecteur aller Wahrscheinlichkeit nach unterlassen und Sie lieber durch eine Geschichte höherer Tugend und Menschenfreundlichkeit einzulullen suchen." "Ah, ich verstehe. Nichtsdestoweniger wär' es mir lieb, Sie ließen das Thema fallen. Es geht mir im Kopf herum und quält mich, nicht um des Augenblicks, wohl aber um meiner nächsten Zukunft willen. Ich will nämlich, wie Sie vielleicht überhört haben, eben jetzt nach England, einem Lande, von dem ich ohnehin die Vorstellung unterhalte, daß es ein Tauris oder Colchis sei, wo die Fremden irgend einem Götzen oder sonstigem Etwas zu Ehren geopfert werden." "Etwas davon trifft auch zu. Nur statt des goldenen Vließes von Colchis haben sie drüben das goldene Kalb. Und ihm fallen Opfer genug. Trotzdem ist dies England, über dessen ,shortcomings', ein unübersetzbares Wort, ich vollkommen aufgeklärt bin, vergleichungsweise das Land der Nicht-Verbrechen." "Sie setzen mich in Erstaunen." "Woraus ich nur ersehe, daß Sie die wichtigste Zeitungsrubrik, die der statistischen Notizen, von Ihrer Beobachtung ausgeschlossen haben. Sonst würden Sie weniger verwundert sein." naives avis au lecteur aller Wahrscheinlichkeit nach unterlassen und Sie lieber durch eine Geschichte höherer Tugend und Menschenfreundlichkeit einzulullen suchen.“ „Ah, ich verstehe. Nichtsdestoweniger wär’ es mir lieb, Sie ließen das Thema fallen. Es geht mir im Kopf herum und quält mich, nicht um des Augenblicks, wohl aber um meiner nächsten Zukunft willen. Ich will nämlich, wie Sie vielleicht überhört haben, eben jetzt nach England, einem Lande, von dem ich ohnehin die Vorstellung unterhalte, daß es ein Tauris oder Colchis sei, wo die Fremden irgend einem Götzen oder sonstigem Etwas zu Ehren geopfert werden.“ „Etwas davon trifft auch zu. Nur statt des goldenen Vließes von Colchis haben sie drüben das goldene Kalb. Und ihm fallen Opfer genug. Trotzdem ist dies England, über dessen ‚shortcomings‘, ein unübersetzbares Wort, ich vollkommen aufgeklärt bin, vergleichungsweise das Land der Nicht-Verbrechen.“ „Sie setzen mich in Erstaunen.“ „Woraus ich nur ersehe, daß Sie die wichtigste Zeitungsrubrik, die der statistischen Notizen, von Ihrer Beobachtung ausgeschlossen haben. Sonst würden Sie weniger verwundert sein.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0045" n="43"/> naives avis au lecteur aller Wahrscheinlichkeit nach unterlassen und Sie lieber durch eine Geschichte höherer Tugend und Menschenfreundlichkeit einzulullen suchen.“</p><lb/> <p>„Ah, ich verstehe. Nichtsdestoweniger wär’ es mir lieb, Sie ließen das Thema fallen. Es geht mir im Kopf herum und quält mich, nicht um des Augenblicks, wohl aber um meiner nächsten Zukunft willen. Ich will nämlich, wie Sie vielleicht überhört haben, eben jetzt nach England, einem Lande, von dem ich ohnehin die Vorstellung unterhalte, daß es ein Tauris oder Colchis sei, wo die Fremden irgend einem Götzen oder sonstigem Etwas zu Ehren geopfert werden.“</p><lb/> <p>„Etwas davon trifft auch zu. Nur statt des goldenen Vließes von Colchis haben sie drüben das goldene Kalb. Und ihm fallen Opfer genug. Trotzdem ist dies England, über dessen ‚shortcomings‘, ein unübersetzbares Wort, ich vollkommen aufgeklärt bin, vergleichungsweise das Land der Nicht-Verbrechen.“</p><lb/> <p>„Sie setzen mich in Erstaunen.“</p><lb/> <p>„Woraus ich nur ersehe, daß Sie die wichtigste Zeitungsrubrik, die der statistischen Notizen, von Ihrer Beobachtung ausgeschlossen haben. Sonst würden Sie weniger verwundert sein.“</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [43/0045]
naives avis au lecteur aller Wahrscheinlichkeit nach unterlassen und Sie lieber durch eine Geschichte höherer Tugend und Menschenfreundlichkeit einzulullen suchen.“
„Ah, ich verstehe. Nichtsdestoweniger wär’ es mir lieb, Sie ließen das Thema fallen. Es geht mir im Kopf herum und quält mich, nicht um des Augenblicks, wohl aber um meiner nächsten Zukunft willen. Ich will nämlich, wie Sie vielleicht überhört haben, eben jetzt nach England, einem Lande, von dem ich ohnehin die Vorstellung unterhalte, daß es ein Tauris oder Colchis sei, wo die Fremden irgend einem Götzen oder sonstigem Etwas zu Ehren geopfert werden.“
„Etwas davon trifft auch zu. Nur statt des goldenen Vließes von Colchis haben sie drüben das goldene Kalb. Und ihm fallen Opfer genug. Trotzdem ist dies England, über dessen ‚shortcomings‘, ein unübersetzbares Wort, ich vollkommen aufgeklärt bin, vergleichungsweise das Land der Nicht-Verbrechen.“
„Sie setzen mich in Erstaunen.“
„Woraus ich nur ersehe, daß Sie die wichtigste Zeitungsrubrik, die der statistischen Notizen, von Ihrer Beobachtung ausgeschlossen haben. Sonst würden Sie weniger verwundert sein.“
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(2014-01-22T15:28:28Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2014-01-22T15:28:28Z)
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2014-01-22T15:28:28Z)
Weitere Informationen:Theodor Fontane: Von vor und nach der Reise. Plaudereien und kleine Geschichten. Hrsg. von Walter Hettche und Gabriele Radecke. Berlin 2007 [= Große Brandenburger Ausgabe, Das erzählerische Werk, Bd. 19]: Bereitstellung der Texttranskription (mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags Berlin). Anmerkungen zur Transkription:
Auslassungszeichen im Text werden einheitlich als U+2026 <…> (HORIZONTAL ELLIPSIS) wiedergegeben.
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