Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fontane, Theodor: Meine Kinderjahre. Berlin, 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

10 Fuß breit um das Haus herum Müll und Ziegelschutt aufgeschüttet war. Ich lag da für todt und rührte mich nicht, der Umstand indeß, daß das viele kleine Gezweige zunächst die Vehemenz des Sturzes gemindert hatte, hatte mich doch gerettet und nach kurzer Zeit schlug ich die Augen auf und Pietzker trug mich in die Apotheke, wo man mir mit Salmiakgeist weiter aufzuhelfen trachtete. Geschah auch. Als ich aber über Rücken- und Rippenschmerzen klagte, sagte Pietzker: "Da hilft blos Mierenspiritus." Und ehe ich "ja oder nein" sagen konnte, wurde ich damit übergossen. Ich hatte immer noch Schmerzen, war jedoch wieder beweglich geworden und konnte, wenn auch freilich nur mit Anstrengung, beim Abendbrot, bei dem die Eltern glücklicherweise fehlten, erscheinen. Es war gerade die schon in einem früheren Kapitel erwähnte Milchsuppenzeit, was an und für sich gut paßte. Zugleich aber war es auch der Tag, wo aus der herkömmlichen Folge von Reis, Grieß, Hirse, gerade die Hirse an der Reihe war, und mit einem Male merkend, daß sich, wohl in weiterer Folge meines Sturzes, die Vorderhälfte des einen Backzahns ablöste, fühlte ich auch schon, wie sich ein Hirsekorn in die offene Stelle einsenkte. Unter furchtbaren Schmerzen verbrachte ich die Nacht und war am andern Tag ein Bild des Jammers. Dazu kam noch die beständige Furcht,

10 Fuß breit um das Haus herum Müll und Ziegelschutt aufgeschüttet war. Ich lag da für todt und rührte mich nicht, der Umstand indeß, daß das viele kleine Gezweige zunächst die Vehemenz des Sturzes gemindert hatte, hatte mich doch gerettet und nach kurzer Zeit schlug ich die Augen auf und Pietzker trug mich in die Apotheke, wo man mir mit Salmiakgeist weiter aufzuhelfen trachtete. Geschah auch. Als ich aber über Rücken- und Rippenschmerzen klagte, sagte Pietzker: „Da hilft blos Mierenspiritus.“ Und ehe ich „ja oder nein“ sagen konnte, wurde ich damit übergossen. Ich hatte immer noch Schmerzen, war jedoch wieder beweglich geworden und konnte, wenn auch freilich nur mit Anstrengung, beim Abendbrot, bei dem die Eltern glücklicherweise fehlten, erscheinen. Es war gerade die schon in einem früheren Kapitel erwähnte Milchsuppenzeit, was an und für sich gut paßte. Zugleich aber war es auch der Tag, wo aus der herkömmlichen Folge von Reis, Grieß, Hirse, gerade die Hirse an der Reihe war, und mit einem Male merkend, daß sich, wohl in weiterer Folge meines Sturzes, die Vorderhälfte des einen Backzahns ablöste, fühlte ich auch schon, wie sich ein Hirsekorn in die offene Stelle einsenkte. Unter furchtbaren Schmerzen verbrachte ich die Nacht und war am andern Tag ein Bild des Jammers. Dazu kam noch die beständige Furcht,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0260" n="252"/>
10 Fuß breit um das Haus herum Müll und Ziegelschutt aufgeschüttet war. Ich lag da für todt und rührte mich nicht, der Umstand indeß, daß das viele kleine Gezweige zunächst die Vehemenz des Sturzes gemindert hatte, hatte mich doch gerettet und nach kurzer Zeit schlug ich die Augen auf und Pietzker trug mich in die Apotheke, wo man mir mit Salmiakgeist weiter aufzuhelfen trachtete. Geschah auch. Als ich aber über Rücken- und Rippenschmerzen klagte, sagte Pietzker: &#x201E;Da hilft blos Mierenspiritus.&#x201C; Und ehe ich &#x201E;ja oder nein&#x201C; sagen konnte, wurde ich damit übergossen. Ich hatte immer noch Schmerzen, war jedoch wieder beweglich geworden und konnte, wenn auch freilich nur mit Anstrengung, beim Abendbrot, bei dem die Eltern glücklicherweise fehlten, erscheinen. Es war gerade die schon in einem früheren Kapitel erwähnte Milchsuppenzeit, was an und für sich gut paßte. Zugleich aber war es auch der Tag, wo aus der herkömmlichen Folge von Reis, Grieß, Hirse, gerade die Hirse an der Reihe war, und mit einem Male merkend, daß sich, wohl in weiterer Folge meines Sturzes, die Vorderhälfte des einen Backzahns ablöste, fühlte ich auch schon, wie sich ein Hirsekorn in die offene Stelle einsenkte. Unter furchtbaren Schmerzen verbrachte ich die Nacht und war am andern Tag ein Bild des Jammers. Dazu kam noch die beständige Furcht,
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[252/0260] 10 Fuß breit um das Haus herum Müll und Ziegelschutt aufgeschüttet war. Ich lag da für todt und rührte mich nicht, der Umstand indeß, daß das viele kleine Gezweige zunächst die Vehemenz des Sturzes gemindert hatte, hatte mich doch gerettet und nach kurzer Zeit schlug ich die Augen auf und Pietzker trug mich in die Apotheke, wo man mir mit Salmiakgeist weiter aufzuhelfen trachtete. Geschah auch. Als ich aber über Rücken- und Rippenschmerzen klagte, sagte Pietzker: „Da hilft blos Mierenspiritus.“ Und ehe ich „ja oder nein“ sagen konnte, wurde ich damit übergossen. Ich hatte immer noch Schmerzen, war jedoch wieder beweglich geworden und konnte, wenn auch freilich nur mit Anstrengung, beim Abendbrot, bei dem die Eltern glücklicherweise fehlten, erscheinen. Es war gerade die schon in einem früheren Kapitel erwähnte Milchsuppenzeit, was an und für sich gut paßte. Zugleich aber war es auch der Tag, wo aus der herkömmlichen Folge von Reis, Grieß, Hirse, gerade die Hirse an der Reihe war, und mit einem Male merkend, daß sich, wohl in weiterer Folge meines Sturzes, die Vorderhälfte des einen Backzahns ablöste, fühlte ich auch schon, wie sich ein Hirsekorn in die offene Stelle einsenkte. Unter furchtbaren Schmerzen verbrachte ich die Nacht und war am andern Tag ein Bild des Jammers. Dazu kam noch die beständige Furcht,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2013-01-21T13:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Digitale Drucke der Uni Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-01-21T13:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2013-01-21T13:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Worttrennungen am Zeilenende werden ignoriert. Das Wort wird noch auf der gleichen Seite vervollständigt.
  • Die Transkription folgt im Übrigen dem Original.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_kinderjahre_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_kinderjahre_1894/260
Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Meine Kinderjahre. Berlin, 1894, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_kinderjahre_1894/260>, abgerufen am 19.05.2024.