trat. "Annie!" Aber Annie blieb an der mir an¬ gelehnten Thür stehen, halb verlegen, aber halb auch mit Vorbedacht, und so eilte denn Effi auf das Kind zu, hob es in die Höhe und küßte es.
"Annie, mein süßes Kind, wie freue ich mich. Komm', erzähle mir," und dabei nahm sie Annie bei der Hand und ging auf das Sofa zu, um sich da zu setzen. Annie stand aufrecht und griff, während sie die Mutter immer noch scheu ansah, mit der Linken nach dem Zipfel der herabhängenden Tisch¬ decke. "Weißt Du wohl, Annie, daß ich Dich einmal gesehen habe."
"Ja, mir war es auch so."
"Und nun erzähle mir recht viel. Wie groß Du geworden bist! Und das ist die Narbe da; Roswitha hat mir davon erzählt. Du warst immer so wild und ausgelassen beim Spielen. Das hast Du von Deiner Mama, die war auch so. Und in der Schule? ich denke mir, Du bist immer die Erste, Du siehst mir so aus, als müßtest Du eine Muster¬ schülerin sein und immer die besten Zensuren nach Hause bringen. Ich habe auch gehört, daß Dich das Fräulein von Wedelstädt so gelobt haben soll. Das ist recht; ich war auch so ehrgeizig, aber ich hatte nicht solche gute Schule. Mythologie war immer mein bestes. Worin bist Du denn am besten?"
Effi Brieſt
trat. „Annie!“ Aber Annie blieb an der mir an¬ gelehnten Thür ſtehen, halb verlegen, aber halb auch mit Vorbedacht, und ſo eilte denn Effi auf das Kind zu, hob es in die Höhe und küßte es.
„Annie, mein ſüßes Kind, wie freue ich mich. Komm', erzähle mir,“ und dabei nahm ſie Annie bei der Hand und ging auf das Sofa zu, um ſich da zu ſetzen. Annie ſtand aufrecht und griff, während ſie die Mutter immer noch ſcheu anſah, mit der Linken nach dem Zipfel der herabhängenden Tiſch¬ decke. „Weißt Du wohl, Annie, daß ich Dich einmal geſehen habe.“
„Ja, mir war es auch ſo.“
„Und nun erzähle mir recht viel. Wie groß Du geworden biſt! Und das iſt die Narbe da; Roswitha hat mir davon erzählt. Du warſt immer ſo wild und ausgelaſſen beim Spielen. Das haſt Du von Deiner Mama, die war auch ſo. Und in der Schule? ich denke mir, Du biſt immer die Erſte, Du ſiehſt mir ſo aus, als müßteſt Du eine Muſter¬ ſchülerin ſein und immer die beſten Zenſuren nach Hauſe bringen. Ich habe auch gehört, daß Dich das Fräulein von Wedelſtädt ſo gelobt haben ſoll. Das iſt recht; ich war auch ſo ehrgeizig, aber ich hatte nicht ſolche gute Schule. Mythologie war immer mein beſtes. Worin biſt Du denn am beſten?“
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Effi Brieſt
trat. „Annie!“ Aber Annie blieb an der mir an¬
gelehnten Thür ſtehen, halb verlegen, aber halb auch
mit Vorbedacht, und ſo eilte denn Effi auf das Kind
zu, hob es in die Höhe und küßte es.
„Annie, mein ſüßes Kind, wie freue ich mich.
Komm', erzähle mir,“ und dabei nahm ſie Annie bei
der Hand und ging auf das Sofa zu, um ſich da
zu ſetzen. Annie ſtand aufrecht und griff, während
ſie die Mutter immer noch ſcheu anſah, mit der
Linken nach dem Zipfel der herabhängenden Tiſch¬
decke. „Weißt Du wohl, Annie, daß ich Dich einmal
geſehen habe.“
„Ja, mir war es auch ſo.“
„Und nun erzähle mir recht viel. Wie groß
Du geworden biſt! Und das iſt die Narbe da;
Roswitha hat mir davon erzählt. Du warſt immer
ſo wild und ausgelaſſen beim Spielen. Das haſt
Du von Deiner Mama, die war auch ſo. Und in
der Schule? ich denke mir, Du biſt immer die Erſte,
Du ſiehſt mir ſo aus, als müßteſt Du eine Muſter¬
ſchülerin ſein und immer die beſten Zenſuren nach
Hauſe bringen. Ich habe auch gehört, daß Dich das
Fräulein von Wedelſtädt ſo gelobt haben ſoll. Das
iſt recht; ich war auch ſo ehrgeizig, aber ich hatte
nicht ſolche gute Schule. Mythologie war immer
mein beſtes. Worin biſt Du denn am beſten?“
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Fontane, Theodor: Effi Briest. Berlin, 1896, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_briest_1896/488>, abgerufen am 22.11.2024.
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