roten Fahnen sind eingezogen. Immer, wenn ich diesen Sommer, die paarmal wo ich mich bis an den Strand hinauswagte, die roten Fahnen sah, sagt' ich mir: da liegt Vineta, da muß es liegen, das sind die Turmspitzen ..."
"Das macht, weil Sie das Heine'sche Gedicht kennen."
"Welches?"
"Nun, das von Vineta."
"Nein, das kenne ich nicht; ich kenne überhaupt nur wenig. Leider."
"Und haben doch Gieshübler und den Journal¬ zirkel! Übrigens hat Heine dem Gedicht einen anderen Namen gegeben, ich glaube "Seegespenst" oder so ähnlich. Aber Vineta hat er gemeint. Und er selber -- verzeihen Sie, wenn ich Ihnen so ohne weiteres den Inhalt hier wiedergebe -- der Dichter also, während er die Stelle passiert, liegt auf einem Schiffsdeck und sieht hinunter, und sieht da schmale, mittelalter¬ liche Straßen und trippelnde Frauen in Kapothüten, und alle haben ein Gesangbuch in Händen und wollen zur Kirche, und alle Glocken läuten. Und als er das hört, da faßt ihn eine Sehnsucht, auch mit in die Kirche zu gehen, wenn auch bloß um der Kapothüte willen, und vor Verlangen schreit er auf und will sich hinunterstürzen. Aber im selben Augen¬
Effi Brieſt
roten Fahnen ſind eingezogen. Immer, wenn ich dieſen Sommer, die paarmal wo ich mich bis an den Strand hinauswagte, die roten Fahnen ſah, ſagt' ich mir: da liegt Vineta, da muß es liegen, das ſind die Turmſpitzen …“
„Das macht, weil Sie das Heine'ſche Gedicht kennen.“
„Welches?“
„Nun, das von Vineta.“
„Nein, das kenne ich nicht; ich kenne überhaupt nur wenig. Leider.“
„Und haben doch Gieshübler und den Journal¬ zirkel! Übrigens hat Heine dem Gedicht einen anderen Namen gegeben, ich glaube „Seegeſpenſt“ oder ſo ähnlich. Aber Vineta hat er gemeint. Und er ſelber — verzeihen Sie, wenn ich Ihnen ſo ohne weiteres den Inhalt hier wiedergebe — der Dichter alſo, während er die Stelle paſſiert, liegt auf einem Schiffsdeck und ſieht hinunter, und ſieht da ſchmale, mittelalter¬ liche Straßen und trippelnde Frauen in Kapothüten, und alle haben ein Geſangbuch in Händen und wollen zur Kirche, und alle Glocken läuten. Und als er das hört, da faßt ihn eine Sehnſucht, auch mit in die Kirche zu gehen, wenn auch bloß um der Kapothüte willen, und vor Verlangen ſchreit er auf und will ſich hinunterſtürzen. Aber im ſelben Augen¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0245"n="236"/><fwplace="top"type="header">Effi Brieſt<lb/></fw> roten Fahnen ſind eingezogen. Immer, wenn ich<lb/>
dieſen Sommer, die paarmal wo ich mich bis an den<lb/>
Strand hinauswagte, die roten Fahnen ſah, ſagt' ich<lb/>
mir: da liegt Vineta, da <hirendition="#g">muß</hi> es liegen, das ſind<lb/>
die Turmſpitzen …“</p><lb/><p>„Das macht, weil Sie das Heine'ſche Gedicht<lb/>
kennen.“</p><lb/><p>„Welches?“</p><lb/><p>„Nun, das von Vineta.“</p><lb/><p>„Nein, das kenne ich nicht; ich kenne überhaupt<lb/>
nur wenig. Leider.“</p><lb/><p>„Und haben doch Gieshübler und den Journal¬<lb/>
zirkel! Übrigens hat Heine dem Gedicht einen anderen<lb/>
Namen gegeben, ich glaube „Seegeſpenſt“ oder ſo<lb/>
ähnlich. Aber Vineta hat er gemeint. Und er ſelber<lb/>— verzeihen Sie, wenn ich Ihnen ſo ohne weiteres den<lb/>
Inhalt hier wiedergebe — der Dichter alſo, während<lb/>
er die Stelle paſſiert, liegt auf einem Schiffsdeck<lb/>
und ſieht hinunter, und ſieht da ſchmale, mittelalter¬<lb/>
liche Straßen und trippelnde Frauen in Kapothüten,<lb/>
und alle haben ein Geſangbuch in Händen und<lb/>
wollen zur Kirche, und alle Glocken läuten. Und<lb/>
als er das hört, da faßt ihn eine Sehnſucht, auch<lb/>
mit in die Kirche zu gehen, wenn auch bloß um der<lb/>
Kapothüte willen, und vor Verlangen ſchreit er auf<lb/>
und will ſich hinunterſtürzen. Aber im ſelben Augen¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[236/0245]
Effi Brieſt
roten Fahnen ſind eingezogen. Immer, wenn ich
dieſen Sommer, die paarmal wo ich mich bis an den
Strand hinauswagte, die roten Fahnen ſah, ſagt' ich
mir: da liegt Vineta, da muß es liegen, das ſind
die Turmſpitzen …“
„Das macht, weil Sie das Heine'ſche Gedicht
kennen.“
„Welches?“
„Nun, das von Vineta.“
„Nein, das kenne ich nicht; ich kenne überhaupt
nur wenig. Leider.“
„Und haben doch Gieshübler und den Journal¬
zirkel! Übrigens hat Heine dem Gedicht einen anderen
Namen gegeben, ich glaube „Seegeſpenſt“ oder ſo
ähnlich. Aber Vineta hat er gemeint. Und er ſelber
— verzeihen Sie, wenn ich Ihnen ſo ohne weiteres den
Inhalt hier wiedergebe — der Dichter alſo, während
er die Stelle paſſiert, liegt auf einem Schiffsdeck
und ſieht hinunter, und ſieht da ſchmale, mittelalter¬
liche Straßen und trippelnde Frauen in Kapothüten,
und alle haben ein Geſangbuch in Händen und
wollen zur Kirche, und alle Glocken läuten. Und
als er das hört, da faßt ihn eine Sehnſucht, auch
mit in die Kirche zu gehen, wenn auch bloß um der
Kapothüte willen, und vor Verlangen ſchreit er auf
und will ſich hinunterſtürzen. Aber im ſelben Augen¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Fontane, Theodor: Effi Briest. Berlin, 1896, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_briest_1896/245>, abgerufen am 29.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.