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Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Berlin, 1863.

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Kindheit. Am Giebichenstein spielt er umher; er singt und klettert
unter Fels und Trümmern, und thut unbewußt seinen ersten
Trunk aus Romantik und Märchenwelt. Er singt "des Knaben
Berglied", er hat eine klare Kinderstimme; aber was frommt dem
"armer Leute Kind" Lied und Gesang, wenn beide nicht zu erwerben
verstehen? und so finden wir unseren jungen Freund in den dun-
keln Straßen Halle's wieder, -- er trägt den Currende-Mantel,
und singt um's Brot. Sei's drum, es haben es bessere vor ihm
gethan. Aber Frau Musika führt einen knappen Haushalt und
andere freie Künste müssen helfen. Zunächst die Dichtkunst. Zunft-
mäßig tritt er bei ihr ein; Friedrike Schmidt, eine blinde Dich-
terin seiner Vaterstadt, diktirt ihm ihre Lieder und gelehrig wie er
ist, lernt er der Frau Meisterin die paar Handtirungen ab, die
ihre Kunst ausmachen und versucht sich selbst alsbald in seinen
ersten Versen.

Glückliche Jahre waren es, diese Lehrjahre bei der freien
Zunft, aber wirkliche Lehrjahre sollten folgen, die Drechslerkunst
löste die Reimkunst ab, und an die Stelle der blinden "Frau
Meisterin" trat ein Meister, der scharf nach dem Rechten sah.

Wer indessen, so fragen wir, der gesunden und vor allem
poetischen Geistes ist, trüge nicht verhältnißmäßig leicht diese Tage
des Lernens und der Laune, diese Tage voll Zwang und Druck
und Enge? Auch der Bedrückteste, er sieht ein Ende ab; in wei-
ter, aber immer kleiner und kürzer werdender Ferne, jetzt drei
Jahre, nun zwei, jetzt nur noch eins, steht es wie ein Lichtschein
und wächst und nimmt Gestalt an, und endlich erkennbar gewor-
den, sehen wir wie die Gestalt nach außen zeigt, jenseit des
Gitterthores, in ein weites Land der Freiheit hinein. Das sind
die Wanderjahre, die den Lehrjahren folgen, -- ein Wechsel, den
das Leben jedem bescheert, er sei hoch oder niedrig geboren, sei
"Bursch" oder Handwerksbursche.

Diese Zeit der Freiheit kam endlich auch unserm Poeten, --
er wanderte. Er wanderte mit Lust und seine Lieder selbst haben
uns ein paar Klänge davon aufbewahrt. Er zog weit umher, arm,

Kindheit. Am Giebichenſtein ſpielt er umher; er ſingt und klettert
unter Fels und Trümmern, und thut unbewußt ſeinen erſten
Trunk aus Romantik und Märchenwelt. Er ſingt „des Knaben
Berglied“, er hat eine klare Kinderſtimme; aber was frommt dem
„armer Leute Kind“ Lied und Geſang, wenn beide nicht zu erwerben
verſtehen? und ſo finden wir unſeren jungen Freund in den dun-
keln Straßen Halle’s wieder, — er trägt den Currende-Mantel,
und ſingt um’s Brot. Sei’s drum, es haben es beſſere vor ihm
gethan. Aber Frau Muſika führt einen knappen Haushalt und
andere freie Künſte müſſen helfen. Zunächſt die Dichtkunſt. Zunft-
mäßig tritt er bei ihr ein; Friedrike Schmidt, eine blinde Dich-
terin ſeiner Vaterſtadt, diktirt ihm ihre Lieder und gelehrig wie er
iſt, lernt er der Frau Meiſterin die paar Handtirungen ab, die
ihre Kunſt ausmachen und verſucht ſich ſelbſt alsbald in ſeinen
erſten Verſen.

Glückliche Jahre waren es, dieſe Lehrjahre bei der freien
Zunft, aber wirkliche Lehrjahre ſollten folgen, die Drechslerkunſt
löſte die Reimkunſt ab, und an die Stelle der blinden „Frau
Meiſterin“ trat ein Meiſter, der ſcharf nach dem Rechten ſah.

Wer indeſſen, ſo fragen wir, der geſunden und vor allem
poetiſchen Geiſtes iſt, trüge nicht verhältnißmäßig leicht dieſe Tage
des Lernens und der Laune, dieſe Tage voll Zwang und Druck
und Enge? Auch der Bedrückteſte, er ſieht ein Ende ab; in wei-
ter, aber immer kleiner und kürzer werdender Ferne, jetzt drei
Jahre, nun zwei, jetzt nur noch eins, ſteht es wie ein Lichtſchein
und wächſt und nimmt Geſtalt an, und endlich erkennbar gewor-
den, ſehen wir wie die Geſtalt nach außen zeigt, jenſeit des
Gitterthores, in ein weites Land der Freiheit hinein. Das ſind
die Wanderjahre, die den Lehrjahren folgen, — ein Wechſel, den
das Leben jedem beſcheert, er ſei hoch oder niedrig geboren, ſei
„Burſch“ oder Handwerksburſche.

Dieſe Zeit der Freiheit kam endlich auch unſerm Poeten, —
er wanderte. Er wanderte mit Luſt und ſeine Lieder ſelbſt haben
uns ein paar Klänge davon aufbewahrt. Er zog weit umher, arm,

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[298/0310] Kindheit. Am Giebichenſtein ſpielt er umher; er ſingt und klettert unter Fels und Trümmern, und thut unbewußt ſeinen erſten Trunk aus Romantik und Märchenwelt. Er ſingt „des Knaben Berglied“, er hat eine klare Kinderſtimme; aber was frommt dem „armer Leute Kind“ Lied und Geſang, wenn beide nicht zu erwerben verſtehen? und ſo finden wir unſeren jungen Freund in den dun- keln Straßen Halle’s wieder, — er trägt den Currende-Mantel, und ſingt um’s Brot. Sei’s drum, es haben es beſſere vor ihm gethan. Aber Frau Muſika führt einen knappen Haushalt und andere freie Künſte müſſen helfen. Zunächſt die Dichtkunſt. Zunft- mäßig tritt er bei ihr ein; Friedrike Schmidt, eine blinde Dich- terin ſeiner Vaterſtadt, diktirt ihm ihre Lieder und gelehrig wie er iſt, lernt er der Frau Meiſterin die paar Handtirungen ab, die ihre Kunſt ausmachen und verſucht ſich ſelbſt alsbald in ſeinen erſten Verſen. Glückliche Jahre waren es, dieſe Lehrjahre bei der freien Zunft, aber wirkliche Lehrjahre ſollten folgen, die Drechslerkunſt löſte die Reimkunſt ab, und an die Stelle der blinden „Frau Meiſterin“ trat ein Meiſter, der ſcharf nach dem Rechten ſah. Wer indeſſen, ſo fragen wir, der geſunden und vor allem poetiſchen Geiſtes iſt, trüge nicht verhältnißmäßig leicht dieſe Tage des Lernens und der Laune, dieſe Tage voll Zwang und Druck und Enge? Auch der Bedrückteſte, er ſieht ein Ende ab; in wei- ter, aber immer kleiner und kürzer werdender Ferne, jetzt drei Jahre, nun zwei, jetzt nur noch eins, ſteht es wie ein Lichtſchein und wächſt und nimmt Geſtalt an, und endlich erkennbar gewor- den, ſehen wir wie die Geſtalt nach außen zeigt, jenſeit des Gitterthores, in ein weites Land der Freiheit hinein. Das ſind die Wanderjahre, die den Lehrjahren folgen, — ein Wechſel, den das Leben jedem beſcheert, er ſei hoch oder niedrig geboren, ſei „Burſch“ oder Handwerksburſche. Dieſe Zeit der Freiheit kam endlich auch unſerm Poeten, — er wanderte. Er wanderte mit Luſt und ſeine Lieder ſelbſt haben uns ein paar Klänge davon aufbewahrt. Er zog weit umher, arm,

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Berlin, 1863, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg02_1863/310>, abgerufen am 22.11.2024.