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Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. [Bd. 1: Die Grafschaft Ruppin. Der Barnim. Der Teltow]. Berlin, 1862.

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Flügel des Schlosses und wird nach vorn hin durch die Thurm-
zimmer begrenzt. Seine hohen Fenster blicken nach links hin auf
den Schloßhof, nach rechts hin auf das "Cavalierhaus" und
einen vorgeschobenen Theil der Stadt hinaus. Der Saal, etwa
40 Fuß lang und fast eben so breit, ist vortrefflich erhalten; die
Wände sind von Stuck und die Fenster-Pfeiler mit Spiegeln und
Goldrahmen reich verziert. Die eigentliche Sehenswürdigkeit indeß
ist das große Deckengemälde von Pesne, das derselbe, nach einem
den Ovidschen Metamorphosen entlehnten Vorwurf, im Jahre
1739 hier ausführte. Der Grundgedanke ist: "die aufgehende
Sonne vertreibt die Schatten der Finsterniß" oder wie einige es
ausgelegt haben "der junge Leuchteprinz vertreibt den König
Griesegram." Die Ausführung ist vortrefflich, und wie immer
man über pausbackige Genien und halbbekleidete Göttinnen denken
mag, in dem Ganzen lebt und webt eine künstlerische Potenz,
gegen die es nicht gut möglich ist, sich zu verschließen. -- In eben
diesem Saal fand im Sommer 1848, wo es schwer ward, solche
Gesuche abzulehnen, ein großes Ruppin-Rheinsbergisches Gesangfest
statt. Man vollführte einen Heidenlärm, bis plötzlich eine halbe
Stuck-Wand sich loslöste und mitten in den entsetzten Sängerkreis
hinein fiel. Man stob aus einander. Das Mauerwerk des alten
Schlosses hatte sich gegen die Unbill empört.

Dieser linke Flügel enthält außer dem Concertsaal noch zehn
oder zwölf kleinere Räume, von denen einige die Zimmer der
Prinzeß Amalie heißen, während der Rest sich ohne allen Namen
begnügen muß. Diese "Namenlosen" sind die einzigen Räume des
Schlosses, die noch eine praktische Verwendung finden. Hier logiren
der Hausminister und die Ober-Bau-Räthe, die dann und wann
hier eintreffen, um nach dem Rechten zu sehen. Es macht einen
ganz eigenthümlichen Eindruck, wenn man auf einem langen Marsch
durch lauter unbewohnte Zimmer, die immer nur die Vorstellung
wecken, "hier muß der und der gestorben sein", plötzlich in ein
paar Räume tritt, die liebe Erinnerungen an die Tage eigenen
Chambregarnie-Lebens in uns wecken. Die kleinen Bettstellen von

Flügel des Schloſſes und wird nach vorn hin durch die Thurm-
zimmer begrenzt. Seine hohen Fenſter blicken nach links hin auf
den Schloßhof, nach rechts hin auf das „Cavalierhaus“ und
einen vorgeſchobenen Theil der Stadt hinaus. Der Saal, etwa
40 Fuß lang und faſt eben ſo breit, iſt vortrefflich erhalten; die
Wände ſind von Stuck und die Fenſter-Pfeiler mit Spiegeln und
Goldrahmen reich verziert. Die eigentliche Sehenswürdigkeit indeß
iſt das große Deckengemälde von Pesne, das derſelbe, nach einem
den Ovidſchen Metamorphoſen entlehnten Vorwurf, im Jahre
1739 hier ausführte. Der Grundgedanke iſt: „die aufgehende
Sonne vertreibt die Schatten der Finſterniß“ oder wie einige es
ausgelegt haben „der junge Leuchteprinz vertreibt den König
Grieſegram.“ Die Ausführung iſt vortrefflich, und wie immer
man über pausbackige Genien und halbbekleidete Göttinnen denken
mag, in dem Ganzen lebt und webt eine künſtleriſche Potenz,
gegen die es nicht gut möglich iſt, ſich zu verſchließen. — In eben
dieſem Saal fand im Sommer 1848, wo es ſchwer ward, ſolche
Geſuche abzulehnen, ein großes Ruppin-Rheinsbergiſches Geſangfeſt
ſtatt. Man vollführte einen Heidenlärm, bis plötzlich eine halbe
Stuck-Wand ſich loslöſte und mitten in den entſetzten Sängerkreis
hinein fiel. Man ſtob aus einander. Das Mauerwerk des alten
Schloſſes hatte ſich gegen die Unbill empört.

Dieſer linke Flügel enthält außer dem Concertſaal noch zehn
oder zwölf kleinere Räume, von denen einige die Zimmer der
Prinzeß Amalie heißen, während der Reſt ſich ohne allen Namen
begnügen muß. Dieſe „Namenloſen“ ſind die einzigen Räume des
Schloſſes, die noch eine praktiſche Verwendung finden. Hier logiren
der Hausminiſter und die Ober-Bau-Räthe, die dann und wann
hier eintreffen, um nach dem Rechten zu ſehen. Es macht einen
ganz eigenthümlichen Eindruck, wenn man auf einem langen Marſch
durch lauter unbewohnte Zimmer, die immer nur die Vorſtellung
wecken, „hier muß der und der geſtorben ſein“, plötzlich in ein
paar Räume tritt, die liebe Erinnerungen an die Tage eigenen
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[94/0112] Flügel des Schloſſes und wird nach vorn hin durch die Thurm- zimmer begrenzt. Seine hohen Fenſter blicken nach links hin auf den Schloßhof, nach rechts hin auf das „Cavalierhaus“ und einen vorgeſchobenen Theil der Stadt hinaus. Der Saal, etwa 40 Fuß lang und faſt eben ſo breit, iſt vortrefflich erhalten; die Wände ſind von Stuck und die Fenſter-Pfeiler mit Spiegeln und Goldrahmen reich verziert. Die eigentliche Sehenswürdigkeit indeß iſt das große Deckengemälde von Pesne, das derſelbe, nach einem den Ovidſchen Metamorphoſen entlehnten Vorwurf, im Jahre 1739 hier ausführte. Der Grundgedanke iſt: „die aufgehende Sonne vertreibt die Schatten der Finſterniß“ oder wie einige es ausgelegt haben „der junge Leuchteprinz vertreibt den König Grieſegram.“ Die Ausführung iſt vortrefflich, und wie immer man über pausbackige Genien und halbbekleidete Göttinnen denken mag, in dem Ganzen lebt und webt eine künſtleriſche Potenz, gegen die es nicht gut möglich iſt, ſich zu verſchließen. — In eben dieſem Saal fand im Sommer 1848, wo es ſchwer ward, ſolche Geſuche abzulehnen, ein großes Ruppin-Rheinsbergiſches Geſangfeſt ſtatt. Man vollführte einen Heidenlärm, bis plötzlich eine halbe Stuck-Wand ſich loslöſte und mitten in den entſetzten Sängerkreis hinein fiel. Man ſtob aus einander. Das Mauerwerk des alten Schloſſes hatte ſich gegen die Unbill empört. Dieſer linke Flügel enthält außer dem Concertſaal noch zehn oder zwölf kleinere Räume, von denen einige die Zimmer der Prinzeß Amalie heißen, während der Reſt ſich ohne allen Namen begnügen muß. Dieſe „Namenloſen“ ſind die einzigen Räume des Schloſſes, die noch eine praktiſche Verwendung finden. Hier logiren der Hausminiſter und die Ober-Bau-Räthe, die dann und wann hier eintreffen, um nach dem Rechten zu ſehen. Es macht einen ganz eigenthümlichen Eindruck, wenn man auf einem langen Marſch durch lauter unbewohnte Zimmer, die immer nur die Vorſtellung wecken, „hier muß der und der geſtorben ſein“, plötzlich in ein paar Räume tritt, die liebe Erinnerungen an die Tage eigenen Chambregarnie-Lebens in uns wecken. Die kleinen Bettſtellen von

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. [Bd. 1: Die Grafschaft Ruppin. Der Barnim. Der Teltow]. Berlin, 1862, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg01_1862/112>, abgerufen am 24.11.2024.