Fontane, Theodor: Unterm Birnbaum. In: Die Gartenlaube 32 (1885), H. 33–41."Nu hebben se'n," lief ein Gemurmel den Gartenzaun entlang, unklar lassend, ob man Hradscheck oder den Todten meine; die Jungens auf dem Kegelhäuschen aber reckten ihre Hälse noch mehr als vorher, trotzdem sie weder nah noch hoch genug standen, um irgend 'was sehn zu können. Eine Pause trat ein. Dann nahm der Justizrath des Angeklagten Arm und sagte, während er ihn dicht an die Grube führte. "Nun, Hradscheck, was sagen Sie?" Dieser verzog keine Miene, faltete die Hände wie zum Gebet und sagte dann fest und feierlich: "Jch sage, daß dieser Todte meine Unschuld bezeugen wird." Und während er so sprach, sah er zu dem alten Todtengräber hinüber, der den Blick auch verstand und, ohne weitere Fragen abzuwarten, geschäftsmäßig sagte: "Ja, der hier liegt, liegt hier schon lang. Jch denke 20 Jahre. Und der Pohlsche, der es sein soll, is noch keine zehn Wochen todt." Und siehe da, kaum daß diese Worte gesprochen waren, so war ihr Jnhalt auch schon bewiesen und jeder schämte sich, so wenig kaltes Blut und so wenig Umsicht und Ueberlegung gehabt zu haben. Jn einem gewissen Entdeckungseifer waren alle wie blind gewesen und hatten unbeachtet gelassen, daß ein Schädel, um ein richtiger Schädel zu werden, auch sein Stück Zeit verlangt und daß die Todten ihre Verschiedenheiten und ihre Grade haben, gerade so gut wie die Lebendigen. Am verlegensten war der Justizrath. Aber er sammelte sich rasch und sagte: "Todtengräber Wonnekamp hat Recht. Das ist nicht der Todte, den wir suchen. Und wenn er 20 Jahre in der Erde liegt, was ich keinen Augenblick bezweifle, so kann Hradscheck an diesem Todten keine Schuld haben. Und kann auch von einer früheren Schuld keine Rede sein. Denn Hradscheck ist erst im zehnten Jahr in diesem Dorf. Das alles ist jetzt erwiesen. Trotz alledem bleiben ein paar dunkle Punkte, worüber Aufklärung gegeben werden muß. Jch lebe der Zuversicht, daß es an dieser Aufklärung nicht fehlen wird, aber ehe sie gegeben ist, darf ich Sie, Herr Hradscheck, nicht aus der Untersuchung entlassen. Es wird sich dabei, was ich als eine weitere Hoffnung hier ausspreche, nur noch um Stunden und höchstens um Tage handeln." Und damit nahm er Kunicke's Arm und ging in die Weinstube zurück, woselbst er nunmehr, in Gesellschaft von Woytasch und den Gerichtsmännern, dem für ihn servirten Frühstücke tapfer zusprach. Auch Hradscheck ward aufgefordert, sich zu setzen und einen Jmbiß zu nehmen. Er lehnte jedoch ab und sagte, daß er mit seiner Mahlzeit lieber warten wolle, bis er im Küstriner Gefängniß sei. So waren seine Worte. Und diese Worte gefielen den Bauern ungemein. "Er will nicht an seinem eignen Tisch zu Gaste sitzen und das Brot, das er gebacken, nicht als Gnadenbrot essen. Da hat er Recht. Das möcht ich auch nicht." So hieß es, und so dachten die Meisten. Aber freilich nicht alle. Gendarm Geelhaar ging an dem Zaun entlang, über den, sammt andrem Weibervolk, auch Mutter Jeschke weggekuckt hatte. Natürlich auch Line. Geelhaar tippte dieser mit dem Finger auf den Dutt und sagte: "Nu, Line, was macht der Zopf?" "Meiner?" lachte diese. "Hörens, Herr Gendarm, jetzt kommt Jhrer an die Reih'." "Wird so schlimm nicht werden, Lineken ... Und Mutter Jeschke, was sagt die dazu?" "Joa, wat sall se seggen? He is nu wedder 'rut. Awers he kümmt ook woll wedder 'rin." (Fortsetzung folgt.) „Nu hebben se’n,“ lief ein Gemurmel den Gartenzaun entlang, unklar lassend, ob man Hradscheck oder den Todten meine; die Jungens auf dem Kegelhäuschen aber reckten ihre Hälse noch mehr als vorher, trotzdem sie weder nah noch hoch genug standen, um irgend ’was sehn zu können. Eine Pause trat ein. Dann nahm der Justizrath des Angeklagten Arm und sagte, während er ihn dicht an die Grube führte. „Nun, Hradscheck, was sagen Sie?“ Dieser verzog keine Miene, faltete die Hände wie zum Gebet und sagte dann fest und feierlich: „Jch sage, daß dieser Todte meine Unschuld bezeugen wird.“ Und während er so sprach, sah er zu dem alten Todtengräber hinüber, der den Blick auch verstand und, ohne weitere Fragen abzuwarten, geschäftsmäßig sagte: „Ja, der hier liegt, liegt hier schon lang. Jch denke 20 Jahre. Und der Pohlsche, der es sein soll, is noch keine zehn Wochen todt.“ Und siehe da, kaum daß diese Worte gesprochen waren, so war ihr Jnhalt auch schon bewiesen und jeder schämte sich, so wenig kaltes Blut und so wenig Umsicht und Ueberlegung gehabt zu haben. Jn einem gewissen Entdeckungseifer waren alle wie blind gewesen und hatten unbeachtet gelassen, daß ein Schädel, um ein richtiger Schädel zu werden, auch sein Stück Zeit verlangt und daß die Todten ihre Verschiedenheiten und ihre Grade haben, gerade so gut wie die Lebendigen. Am verlegensten war der Justizrath. Aber er sammelte sich rasch und sagte: „Todtengräber Wonnekamp hat Recht. Das ist nicht der Todte, den wir suchen. Und wenn er 20 Jahre in der Erde liegt, was ich keinen Augenblick bezweifle, so kann Hradscheck an diesem Todten keine Schuld haben. Und kann auch von einer früheren Schuld keine Rede sein. Denn Hradscheck ist erst im zehnten Jahr in diesem Dorf. Das alles ist jetzt erwiesen. Trotz alledem bleiben ein paar dunkle Punkte, worüber Aufklärung gegeben werden muß. Jch lebe der Zuversicht, daß es an dieser Aufklärung nicht fehlen wird, aber ehe sie gegeben ist, darf ich Sie, Herr Hradscheck, nicht aus der Untersuchung entlassen. Es wird sich dabei, was ich als eine weitere Hoffnung hier ausspreche, nur noch um Stunden und höchstens um Tage handeln.“ Und damit nahm er Kunicke’s Arm und ging in die Weinstube zurück, woselbst er nunmehr, in Gesellschaft von Woytasch und den Gerichtsmännern, dem für ihn servirten Frühstücke tapfer zusprach. Auch Hradscheck ward aufgefordert, sich zu setzen und einen Jmbiß zu nehmen. Er lehnte jedoch ab und sagte, daß er mit seiner Mahlzeit lieber warten wolle, bis er im Küstriner Gefängniß sei. So waren seine Worte. Und diese Worte gefielen den Bauern ungemein. „Er will nicht an seinem eignen Tisch zu Gaste sitzen und das Brot, das er gebacken, nicht als Gnadenbrot essen. Da hat er Recht. Das möcht ich auch nicht.“ So hieß es, und so dachten die Meisten. Aber freilich nicht alle. Gendarm Geelhaar ging an dem Zaun entlang, über den, sammt andrem Weibervolk, auch Mutter Jeschke weggekuckt hatte. Natürlich auch Line. Geelhaar tippte dieser mit dem Finger auf den Dutt und sagte: „Nu, Line, was macht der Zopf?“ „Meiner?“ lachte diese. „Hörens, Herr Gendarm, jetzt kommt Jhrer an die Reih’.“ „Wird so schlimm nicht werden, Lineken … Und Mutter Jeschke, was sagt die dazu?“ „Joa, wat sall se seggen? He is nu wedder ’rut. Awers he kümmt ook woll wedder ’rin.“ (Fortsetzung folgt.) <TEI> <text> <body> <div xml:id="Heft_37"> <div type="chapter"> <pb facs="#f0022" n="602"/> <p>„Nu hebben se’n,“ lief ein Gemurmel den Gartenzaun entlang, unklar lassend, ob man Hradscheck oder den Todten meine; die Jungens auf dem Kegelhäuschen aber reckten ihre Hälse noch mehr als vorher, trotzdem sie weder nah noch hoch genug standen, um irgend ’was sehn zu können.</p><lb/> <p>Eine Pause trat ein. 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Es wird sich dabei, was ich als eine weitere Hoffnung hier ausspreche, nur noch um Stunden und höchstens um Tage handeln.“</p><lb/> <p>Und damit nahm er Kunicke’s Arm und ging in die Weinstube zurück, woselbst er nunmehr, in Gesellschaft von Woytasch und den Gerichtsmännern, dem für ihn servirten Frühstücke tapfer zusprach. Auch Hradscheck ward aufgefordert, sich zu setzen und einen Jmbiß zu nehmen. Er lehnte jedoch ab und sagte, daß er mit seiner Mahlzeit lieber warten wolle, bis er im Küstriner Gefängniß sei.</p><lb/> <p>So waren seine Worte.</p><lb/> <p>Und diese Worte gefielen den Bauern ungemein. „Er will nicht an seinem eignen Tisch zu Gaste sitzen und das Brot, das er gebacken, nicht als Gnadenbrot essen. Da hat er Recht. Das möcht ich auch nicht.“</p><lb/> <p>So hieß es, und so dachten die Meisten.</p><lb/> <p>Aber freilich nicht alle.</p><lb/> <p>Gendarm Geelhaar ging an dem Zaun entlang, über den, sammt andrem Weibervolk, auch Mutter Jeschke weggekuckt hatte. 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Eine Pause trat ein. Dann nahm der Justizrath des Angeklagten Arm und sagte, während er ihn dicht an die Grube führte. „Nun, Hradscheck, was sagen Sie?“
Dieser verzog keine Miene, faltete die Hände wie zum Gebet und sagte dann fest und feierlich: „Jch sage, daß dieser Todte meine Unschuld bezeugen wird.“
Und während er so sprach, sah er zu dem alten Todtengräber hinüber, der den Blick auch verstand und, ohne weitere Fragen abzuwarten, geschäftsmäßig sagte: „Ja, der hier liegt, liegt hier schon lang. Jch denke 20 Jahre. Und der Pohlsche, der es sein soll, is noch keine zehn Wochen todt.“
Und siehe da, kaum daß diese Worte gesprochen waren, so war ihr Jnhalt auch schon bewiesen und jeder schämte sich, so wenig kaltes Blut und so wenig Umsicht und Ueberlegung gehabt zu haben. Jn einem gewissen Entdeckungseifer waren alle wie blind gewesen und hatten unbeachtet gelassen, daß ein Schädel, um ein richtiger Schädel zu werden, auch sein Stück Zeit verlangt und daß die Todten ihre Verschiedenheiten und ihre Grade haben, gerade so gut wie die Lebendigen.
Am verlegensten war der Justizrath. Aber er sammelte sich rasch und sagte: „Todtengräber Wonnekamp hat Recht. Das ist nicht der Todte, den wir suchen. Und wenn er 20 Jahre in der Erde liegt, was ich keinen Augenblick bezweifle, so kann Hradscheck an diesem Todten keine Schuld haben. Und kann auch von einer früheren Schuld keine Rede sein. Denn Hradscheck ist erst im zehnten Jahr in diesem Dorf. Das alles ist jetzt erwiesen. Trotz alledem bleiben ein paar dunkle Punkte, worüber Aufklärung gegeben werden muß. Jch lebe der Zuversicht, daß es an dieser Aufklärung nicht fehlen wird, aber ehe sie gegeben ist, darf ich Sie, Herr Hradscheck, nicht aus der Untersuchung entlassen. Es wird sich dabei, was ich als eine weitere Hoffnung hier ausspreche, nur noch um Stunden und höchstens um Tage handeln.“
Und damit nahm er Kunicke’s Arm und ging in die Weinstube zurück, woselbst er nunmehr, in Gesellschaft von Woytasch und den Gerichtsmännern, dem für ihn servirten Frühstücke tapfer zusprach. Auch Hradscheck ward aufgefordert, sich zu setzen und einen Jmbiß zu nehmen. Er lehnte jedoch ab und sagte, daß er mit seiner Mahlzeit lieber warten wolle, bis er im Küstriner Gefängniß sei.
So waren seine Worte.
Und diese Worte gefielen den Bauern ungemein. „Er will nicht an seinem eignen Tisch zu Gaste sitzen und das Brot, das er gebacken, nicht als Gnadenbrot essen. Da hat er Recht. Das möcht ich auch nicht.“
So hieß es, und so dachten die Meisten.
Aber freilich nicht alle.
Gendarm Geelhaar ging an dem Zaun entlang, über den, sammt andrem Weibervolk, auch Mutter Jeschke weggekuckt hatte. Natürlich auch Line.
Geelhaar tippte dieser mit dem Finger auf den Dutt und sagte: „Nu, Line, was macht der Zopf?“
„Meiner?“ lachte diese. „Hörens, Herr Gendarm, jetzt kommt Jhrer an die Reih’.“
„Wird so schlimm nicht werden, Lineken … Und Mutter Jeschke, was sagt die dazu?“
„Joa, wat sall se seggen? He is nu wedder ’rut. Awers he kümmt ook woll wedder ’rin.“ (Fortsetzung folgt.)
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Weitere Informationen:Die Transkription erfolgte nach den unter https://de.wikisource.org/wiki/Die_Gartenlaube#Editionsrichtlinien formulierten Richtlinien. Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Fontanes Novelle „Unterm Birnbaum“ erschien 1885 in mehreren Fortsetzungen in der Zeitschrift „Die Gartenlaube“; die einzelnen Textteile wurden im vorliegenden Text zusammengeführt. Die Abbildungen jeweils zu Beginn der einzelnen Hefte bzw. innerhalb der Textteile gehören nicht zur Novelle und wurden daher im vorliegenden DTA-Text nicht ausgewiesen.
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