das erscheint nun plötzlich auf dem Gebiet des Gesichts¬ sinnes möglich. Von demselben Gegenstand, von dem wir seine Tastbarkeit nicht trennen konnten, vermögen wir seine Sichtbarkeit als etwas Selbstständiges gleichsam loszulösen. Wir bedürfen keiner indirekten Mittel, um einen Gegen¬ stand als einen sichtbaren unserem Bewußtsein vorzuführen. Indem wir auch nur einen unbeholfenen Umriß ziehen, thun wir etwas für den Gesichtssinn, was wir für den Tastsinn nie zu thun vermögen; wir schaffen etwas, was uns die Sichtbarkeit des Gegenstandes darstellt, und indem wir dies thun, bringen wir etwas Neues, etwas Anderes hervor, als was vorher den Besitz unserer Gesichtsvor¬ stellung ausmachte. Diese einfache Thatsache muß uns zum Nachdenken darüber anregen, was denn diese Fähig¬ keit zur sichtbaren Darstellung eines Sichtbaren für die Entwickelung der Vorgänge, die auf dem Sinnesgebiet des Auges stattfinden, für eine Bedeutung habe. Jene Frage nach einem dem Menschen angeborenen Bedürfniß, nach einem Trieb als dem Motiv, welches diese nun einmal als gegeben hingenommene Fähigkeit in Bewegung setze, muß uns sehr untergeordnet und unwichtig erscheinen, gegenüber der Frage, was denn überhaupt auf dem Ge¬ biet des Gesichtssinnes vorgehe, indem sich auf demselben eine Thätigkeit entwickele, für die wir auf gewissen anderen Sinnesgebieten Analoges durchaus nicht wahrnehmen können. Wohl ist ein Sinnesgebiet von dem anderen geschieden durch die besondere Art der Wirklichkeit, die es dem Bewußtsein zuführt; größer aber muß uns die Kluft erscheinen, die
das erſcheint nun plötzlich auf dem Gebiet des Geſichts¬ ſinnes möglich. Von demſelben Gegenſtand, von dem wir ſeine Taſtbarkeit nicht trennen konnten, vermögen wir ſeine Sichtbarkeit als etwas Selbſtſtändiges gleichſam loszulöſen. Wir bedürfen keiner indirekten Mittel, um einen Gegen¬ ſtand als einen ſichtbaren unſerem Bewußtſein vorzuführen. Indem wir auch nur einen unbeholfenen Umriß ziehen, thun wir etwas für den Geſichtsſinn, was wir für den Taſtſinn nie zu thun vermögen; wir ſchaffen etwas, was uns die Sichtbarkeit des Gegenſtandes darſtellt, und indem wir dies thun, bringen wir etwas Neues, etwas Anderes hervor, als was vorher den Beſitz unſerer Geſichtsvor¬ ſtellung ausmachte. Dieſe einfache Thatſache muß uns zum Nachdenken darüber anregen, was denn dieſe Fähig¬ keit zur ſichtbaren Darſtellung eines Sichtbaren für die Entwickelung der Vorgänge, die auf dem Sinnesgebiet des Auges ſtattfinden, für eine Bedeutung habe. Jene Frage nach einem dem Menſchen angeborenen Bedürfniß, nach einem Trieb als dem Motiv, welches dieſe nun einmal als gegeben hingenommene Fähigkeit in Bewegung ſetze, muß uns ſehr untergeordnet und unwichtig erſcheinen, gegenüber der Frage, was denn überhaupt auf dem Ge¬ biet des Geſichtsſinnes vorgehe, indem ſich auf demſelben eine Thätigkeit entwickele, für die wir auf gewiſſen anderen Sinnesgebieten Analoges durchaus nicht wahrnehmen können. Wohl iſt ein Sinnesgebiet von dem anderen geſchieden durch die beſondere Art der Wirklichkeit, die es dem Bewußtſein zuführt; größer aber muß uns die Kluft erſcheinen, die
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das erſcheint nun plötzlich auf dem Gebiet des Geſichts¬
ſinnes möglich. Von demſelben Gegenſtand, von dem wir
ſeine Taſtbarkeit nicht trennen konnten, vermögen wir ſeine
Sichtbarkeit als etwas Selbſtſtändiges gleichſam loszulöſen.
Wir bedürfen keiner indirekten Mittel, um einen Gegen¬
ſtand als einen ſichtbaren unſerem Bewußtſein vorzuführen.
Indem wir auch nur einen unbeholfenen Umriß ziehen,
thun wir etwas für den Geſichtsſinn, was wir für den
Taſtſinn nie zu thun vermögen; wir ſchaffen etwas, was
uns die Sichtbarkeit des Gegenſtandes darſtellt, und indem
wir dies thun, bringen wir etwas Neues, etwas Anderes
hervor, als was vorher den Beſitz unſerer Geſichtsvor¬
ſtellung ausmachte. Dieſe einfache Thatſache muß uns
zum Nachdenken darüber anregen, was denn dieſe Fähig¬
keit zur ſichtbaren Darſtellung eines Sichtbaren für die
Entwickelung der Vorgänge, die auf dem Sinnesgebiet des
Auges ſtattfinden, für eine Bedeutung habe. Jene Frage
nach einem dem Menſchen angeborenen Bedürfniß, nach
einem Trieb als dem Motiv, welches dieſe nun einmal
als gegeben hingenommene Fähigkeit in Bewegung ſetze,
muß uns ſehr untergeordnet und unwichtig erſcheinen,
gegenüber der Frage, was denn überhaupt auf dem Ge¬
biet des Geſichtsſinnes vorgehe, indem ſich auf demſelben
eine Thätigkeit entwickele, für die wir auf gewiſſen anderen
Sinnesgebieten Analoges durchaus nicht wahrnehmen können.
Wohl iſt ein Sinnesgebiet von dem anderen geſchieden durch
die beſondere Art der Wirklichkeit, die es dem Bewußtſein
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Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/94>, abgerufen am 16.07.2024.
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