pflegt im Verhältniß zu dem Empfindungs- und Gedanken¬ gehalt, als dessen Träger das sichtbare Gebilde betrachtet wird, so müssen wir dieses Verhältniß umkehren und alle Wichtigkeit, die einem Kunstwerk als solchem zugeschrieben werden kann, in seine Sichtbarkeit verlegen.
Die vorurtheilsfreie Betrachtung derjenigen Werke, in denen die glänzendsten Bethätigungen künstlerischer Be¬ gabung vorliegen, kann dies nur bestätigen. Freilich wer¬ den dieselben Kunstwerke von jeder Theorie, die über die Aufgaben der Kunst formulirt wird, als Beweismaterial beansprucht und benutzt; dies ist aber nur dadurch mög¬ lich, daß man nicht darnach fragt, welches Interesse für den Künstler maßgebend war, als er sein Werk gerade so bildete, wie es thatsächlich vorliegt, sondern den Werth des Werkes aus demjenigen Interesse ableitet, mit dem man selbst demselben entgegentritt. Dem unbefangenen Blick kann es gar nicht verborgen bleiben, daß gerade die höchsten künstlerischen Leistungen sich dadurch kennzeichnen, daß bei ihrer Hervorbringung das Streben, in der bil¬ denden Entwickelung der Gesichtsvorstellung immer weiter vorzudringen, jegliche Rücksicht auf Werthe anderer Art weit hinter sich gelassen hat. Wo wir den Künstler von der Leidenschaft ergriffen sehen, die der Natur von dem Auge unmittelbar entnommene Gestalt bildend zu immer gegenwärtigerem Vorhandensein zu bringen, da nehmen wir zugleich wahr, daß für ihn dasjenige allen Werth ver¬ liert, was an dem Kunstwerk nur mittelbar und nicht durch dasselbe unmittelbar sichtbar zum Ausdruck kommen kann.
pflegt im Verhältniß zu dem Empfindungs- und Gedanken¬ gehalt, als deſſen Träger das ſichtbare Gebilde betrachtet wird, ſo müſſen wir dieſes Verhältniß umkehren und alle Wichtigkeit, die einem Kunſtwerk als ſolchem zugeſchrieben werden kann, in ſeine Sichtbarkeit verlegen.
Die vorurtheilsfreie Betrachtung derjenigen Werke, in denen die glänzendſten Bethätigungen künſtleriſcher Be¬ gabung vorliegen, kann dies nur beſtätigen. Freilich wer¬ den dieſelben Kunſtwerke von jeder Theorie, die über die Aufgaben der Kunſt formulirt wird, als Beweismaterial beanſprucht und benutzt; dies iſt aber nur dadurch mög¬ lich, daß man nicht darnach fragt, welches Intereſſe für den Künſtler maßgebend war, als er ſein Werk gerade ſo bildete, wie es thatſächlich vorliegt, ſondern den Werth des Werkes aus demjenigen Intereſſe ableitet, mit dem man ſelbſt demſelben entgegentritt. Dem unbefangenen Blick kann es gar nicht verborgen bleiben, daß gerade die höchſten künſtleriſchen Leiſtungen ſich dadurch kennzeichnen, daß bei ihrer Hervorbringung das Streben, in der bil¬ denden Entwickelung der Geſichtsvorſtellung immer weiter vorzudringen, jegliche Rückſicht auf Werthe anderer Art weit hinter ſich gelaſſen hat. Wo wir den Künſtler von der Leidenſchaft ergriffen ſehen, die der Natur von dem Auge unmittelbar entnommene Geſtalt bildend zu immer gegenwärtigerem Vorhandenſein zu bringen, da nehmen wir zugleich wahr, daß für ihn dasjenige allen Werth ver¬ liert, was an dem Kunſtwerk nur mittelbar und nicht durch dasſelbe unmittelbar ſichtbar zum Ausdruck kommen kann.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0166"n="154"/>
pflegt im Verhältniß zu dem Empfindungs- und Gedanken¬<lb/>
gehalt, als deſſen Träger das ſichtbare Gebilde betrachtet<lb/>
wird, ſo müſſen wir dieſes Verhältniß umkehren und alle<lb/>
Wichtigkeit, die einem Kunſtwerk als ſolchem zugeſchrieben<lb/>
werden kann, in ſeine Sichtbarkeit verlegen.</p><lb/><p>Die vorurtheilsfreie Betrachtung derjenigen Werke,<lb/>
in denen die glänzendſten Bethätigungen künſtleriſcher Be¬<lb/>
gabung vorliegen, kann dies nur beſtätigen. Freilich wer¬<lb/>
den dieſelben Kunſtwerke von jeder Theorie, die über die<lb/>
Aufgaben der Kunſt formulirt wird, als Beweismaterial<lb/>
beanſprucht und benutzt; dies iſt aber nur dadurch mög¬<lb/>
lich, daß man nicht darnach fragt, welches Intereſſe für<lb/>
den Künſtler maßgebend war, als er ſein Werk gerade ſo<lb/>
bildete, wie es thatſächlich vorliegt, ſondern den Werth<lb/>
des Werkes aus demjenigen Intereſſe ableitet, mit dem<lb/>
man ſelbſt demſelben entgegentritt. Dem unbefangenen<lb/>
Blick kann es gar nicht verborgen bleiben, daß gerade die<lb/>
höchſten künſtleriſchen Leiſtungen ſich dadurch kennzeichnen,<lb/>
daß bei ihrer Hervorbringung das Streben, in der bil¬<lb/>
denden Entwickelung der Geſichtsvorſtellung immer weiter<lb/>
vorzudringen, jegliche Rückſicht auf Werthe anderer Art<lb/>
weit hinter ſich gelaſſen hat. Wo wir den Künſtler von<lb/>
der Leidenſchaft ergriffen ſehen, die der Natur von dem<lb/>
Auge unmittelbar entnommene Geſtalt bildend zu immer<lb/>
gegenwärtigerem Vorhandenſein zu bringen, da nehmen<lb/>
wir zugleich wahr, daß für ihn dasjenige allen Werth ver¬<lb/>
liert, was an dem Kunſtwerk nur mittelbar und nicht durch<lb/>
dasſelbe unmittelbar ſichtbar zum Ausdruck kommen kann.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[154/0166]
pflegt im Verhältniß zu dem Empfindungs- und Gedanken¬
gehalt, als deſſen Träger das ſichtbare Gebilde betrachtet
wird, ſo müſſen wir dieſes Verhältniß umkehren und alle
Wichtigkeit, die einem Kunſtwerk als ſolchem zugeſchrieben
werden kann, in ſeine Sichtbarkeit verlegen.
Die vorurtheilsfreie Betrachtung derjenigen Werke,
in denen die glänzendſten Bethätigungen künſtleriſcher Be¬
gabung vorliegen, kann dies nur beſtätigen. Freilich wer¬
den dieſelben Kunſtwerke von jeder Theorie, die über die
Aufgaben der Kunſt formulirt wird, als Beweismaterial
beanſprucht und benutzt; dies iſt aber nur dadurch mög¬
lich, daß man nicht darnach fragt, welches Intereſſe für
den Künſtler maßgebend war, als er ſein Werk gerade ſo
bildete, wie es thatſächlich vorliegt, ſondern den Werth
des Werkes aus demjenigen Intereſſe ableitet, mit dem
man ſelbſt demſelben entgegentritt. Dem unbefangenen
Blick kann es gar nicht verborgen bleiben, daß gerade die
höchſten künſtleriſchen Leiſtungen ſich dadurch kennzeichnen,
daß bei ihrer Hervorbringung das Streben, in der bil¬
denden Entwickelung der Geſichtsvorſtellung immer weiter
vorzudringen, jegliche Rückſicht auf Werthe anderer Art
weit hinter ſich gelaſſen hat. Wo wir den Künſtler von
der Leidenſchaft ergriffen ſehen, die der Natur von dem
Auge unmittelbar entnommene Geſtalt bildend zu immer
gegenwärtigerem Vorhandenſein zu bringen, da nehmen
wir zugleich wahr, daß für ihn dasjenige allen Werth ver¬
liert, was an dem Kunſtwerk nur mittelbar und nicht durch
dasſelbe unmittelbar ſichtbar zum Ausdruck kommen kann.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/166>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.