Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794.

Bild:
<< vorherige Seite

Boden entwand, wenn wir nicht angefangen hätten
dunkel zu fühlen, was wir erst später deutlich erkann-
ten. -- Diess ist denn auch die Geschichte der Phi-
losophie! und wir haben jetzt den eigentlichen
Grund angegeben, warum dasjenige, was doch in je-
dem menschlichen Geiste offen da liegt, und was je-
der mit Händen greifen kann, wenn es ihm deutlich
dargelegt wird, erst nach mannigfaltigen Herumirren
zum Bewusstsein einiger weniger gelangte. Alle Philo-
sophen sind auf das aufgestellte Ziel ausgegangen, alle
haben durch Reflexion die nothwendige Handlungsart
des menschlichen Geistes von den zufälligen Be-
dingungen derselben absondern wollen; alle haben
sie wirklich, nur mehr oder weniger rein, und mehr
oder weniger vollständig, abgesondert; im Ganzen aber
ist die philosophirende Urtheilskraft immer weiter
vorgerückt und ihrem Ziele näher gekommen.

Da aber jene Reflexion, nicht in so ferne sie
überhaupt vorgenommen wird, oder nicht, denn in
dieser Rücksicht ist sie frei, sondern in so fern sie nach
Gesetzen vorgenommen wird, in so fern unter der Be-
dingung, dass sie überhaupt statt finde, die Art dersel-
ben bestimmt ist -- auch zu den nothwendigen Hand-
lungen des menschlichen Geistes gehört, so müssen die
Gesetze derselben im System des menschlichen Geistes
überhaupt vorkommen; und man kann hinterher, nach
Vollendung der Wissenschaft, allerdings einsehen, ob
man denselben Genüge geleistet habe oder nicht. Man
dürfte also glauben, dass wenigstens hinterher ein evi-
denter Beweiss der Richtigkeit unsers wissenschaftlichen
Systems, als eines solchen möglich wäre.


Aber

Boden entwand, wenn wir nicht angefangen hätten
dunkel zu fühlen, was wir erſt ſpäter deutlich erkann-
ten. — Dieſs iſt denn auch die Geſchichte der Phi-
loſophie! und wir haben jetzt den eigentlichen
Grund angegeben, warum dasjenige, was doch in je-
dem menſchlichen Geiſte offen da liegt, und was je-
der mit Händen greifen kann, wenn es ihm deutlich
dargelegt wird, erſt nach mannigfaltigen Herumirren
zum Bewuſstſein einiger weniger gelangte. Alle Philo-
ſophen ſind auf das aufgeſtellte Ziel ausgegangen, alle
haben durch Reflexion die nothwendige Handlungsart
des menſchlichen Geiſtes von den zufälligen Be-
dingungen derſelben abſondern wollen; alle haben
ſie wirklich, nur mehr oder weniger rein, und mehr
oder weniger vollſtändig, abgeſondert; im Ganzen aber
iſt die philoſophirende Urtheilskraft immer weiter
vorgerückt und ihrem Ziele näher gekommen.

Da aber jene Reflexion, nicht in ſo ferne ſie
überhaupt vorgenommen wird, oder nicht, denn in
dieſer Rückſicht iſt ſie frei, ſondern in ſo fern ſie nach
Geſetzen vorgenommen wird, in ſo fern unter der Be-
dingung, daſs ſie überhaupt ſtatt finde, die Art derſel-
ben beſtimmt iſt — auch zu den nothwendigen Hand-
lungen des menſchlichen Geiſtes gehört, ſo müſſen die
Geſetze derſelben im Syſtem des menſchlichen Geiſtes
überhaupt vorkommen; und man kann hinterher, nach
Vollendung der Wiſſenſchaft, allerdings einſehen, ob
man denſelben Genüge geleiſtet habe oder nicht. Man
dürfte alſo glauben, daſs wenigſtens hinterher ein evi-
denter Beweiſs der Richtigkeit unſers wiſſenſchaftlichen
Syſtems, als eines ſolchen möglich wäre.


Aber
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0062" n="54"/>
Boden entwand, wenn wir nicht angefangen hätten<lb/>
dunkel zu fühlen, was wir er&#x017F;t &#x017F;päter deutlich erkann-<lb/>
ten. &#x2014; Die&#x017F;s i&#x017F;t denn auch die Ge&#x017F;chichte der Phi-<lb/>
lo&#x017F;ophie! und wir haben jetzt den eigentlichen<lb/>
Grund angegeben, warum dasjenige, was doch in je-<lb/>
dem men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;te offen da liegt, und was je-<lb/>
der mit Händen greifen kann, wenn es ihm deutlich<lb/>
dargelegt wird, er&#x017F;t nach mannigfaltigen Herumirren<lb/>
zum Bewu&#x017F;st&#x017F;ein einiger weniger gelangte. Alle Philo-<lb/>
&#x017F;ophen &#x017F;ind auf das aufge&#x017F;tellte Ziel ausgegangen, alle<lb/>
haben durch Reflexion die nothwendige Handlungsart<lb/>
des men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;tes von den zufälligen Be-<lb/>
dingungen der&#x017F;elben ab&#x017F;ondern wollen; alle haben<lb/>
&#x017F;ie wirklich, nur mehr oder weniger rein, und mehr<lb/>
oder weniger voll&#x017F;tändig, abge&#x017F;ondert; im Ganzen aber<lb/>
i&#x017F;t die philo&#x017F;ophirende Urtheilskraft immer weiter<lb/>
vorgerückt und ihrem Ziele näher gekommen.</p><lb/>
          <p>Da aber jene Reflexion, nicht in &#x017F;o ferne &#x017F;ie<lb/>
überhaupt vorgenommen wird, oder nicht, denn in<lb/>
die&#x017F;er Rück&#x017F;icht i&#x017F;t &#x017F;ie frei, &#x017F;ondern in &#x017F;o fern &#x017F;ie nach<lb/>
Ge&#x017F;etzen vorgenommen wird, in &#x017F;o fern unter der Be-<lb/>
dingung, da&#x017F;s &#x017F;ie überhaupt &#x017F;tatt finde, die Art der&#x017F;el-<lb/>
ben be&#x017F;timmt i&#x017F;t &#x2014; auch zu den nothwendigen Hand-<lb/>
lungen des men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;tes gehört, &#x017F;o mü&#x017F;&#x017F;en die<lb/>
Ge&#x017F;etze der&#x017F;elben im Sy&#x017F;tem des men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;tes<lb/>
überhaupt vorkommen; und man kann hinterher, nach<lb/>
Vollendung der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, allerdings ein&#x017F;ehen, ob<lb/>
man den&#x017F;elben Genüge gelei&#x017F;tet habe oder nicht. Man<lb/>
dürfte al&#x017F;o glauben, da&#x017F;s wenig&#x017F;tens hinterher ein evi-<lb/>
denter Bewei&#x017F;s der Richtigkeit un&#x017F;ers wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen<lb/>
Sy&#x017F;tems, als eines &#x017F;olchen möglich wäre.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Aber</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[54/0062] Boden entwand, wenn wir nicht angefangen hätten dunkel zu fühlen, was wir erſt ſpäter deutlich erkann- ten. — Dieſs iſt denn auch die Geſchichte der Phi- loſophie! und wir haben jetzt den eigentlichen Grund angegeben, warum dasjenige, was doch in je- dem menſchlichen Geiſte offen da liegt, und was je- der mit Händen greifen kann, wenn es ihm deutlich dargelegt wird, erſt nach mannigfaltigen Herumirren zum Bewuſstſein einiger weniger gelangte. Alle Philo- ſophen ſind auf das aufgeſtellte Ziel ausgegangen, alle haben durch Reflexion die nothwendige Handlungsart des menſchlichen Geiſtes von den zufälligen Be- dingungen derſelben abſondern wollen; alle haben ſie wirklich, nur mehr oder weniger rein, und mehr oder weniger vollſtändig, abgeſondert; im Ganzen aber iſt die philoſophirende Urtheilskraft immer weiter vorgerückt und ihrem Ziele näher gekommen. Da aber jene Reflexion, nicht in ſo ferne ſie überhaupt vorgenommen wird, oder nicht, denn in dieſer Rückſicht iſt ſie frei, ſondern in ſo fern ſie nach Geſetzen vorgenommen wird, in ſo fern unter der Be- dingung, daſs ſie überhaupt ſtatt finde, die Art derſel- ben beſtimmt iſt — auch zu den nothwendigen Hand- lungen des menſchlichen Geiſtes gehört, ſo müſſen die Geſetze derſelben im Syſtem des menſchlichen Geiſtes überhaupt vorkommen; und man kann hinterher, nach Vollendung der Wiſſenſchaft, allerdings einſehen, ob man denſelben Genüge geleiſtet habe oder nicht. Man dürfte alſo glauben, daſs wenigſtens hinterher ein evi- denter Beweiſs der Richtigkeit unſers wiſſenſchaftlichen Syſtems, als eines ſolchen möglich wäre. Aber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794/62
Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794/62>, abgerufen am 24.11.2024.