Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794.

Bild:
<< vorherige Seite

Stuffe seiner Existenz, sondern auf allen möglichen und
denkbaren Stuffen derselben wissen könne *).

Dies ist nur unter folgenden Bedingungen möglich:
zuförderst, dass sich zeigen lasse, der aufgestellte Grund-
satz sei erschöpft; und dann, es sei kein anderer Grund-
satz möglich, als der aufgestellte.

Ein Grundsatz ist erschöpft, wenn ein vollständiges
System auf demselben aufgebaut ist, d. i., wenn der
Grundsatz nothwendig auf alle aufgestellten Sätze führt,
und alle aufgestellten Sätze nothwendig wieder auf ihn

zurück-
*) Auf einen möglichen Einwurf, den aber nur ein Popular-
Philosoph machen könnte! -- Die eigentlichen Aufgaben des
menschlichen Geistes sind freilich, so wohl ihrer Anzahl, als
ihrer Ausdehnung nach unendlich; ihre Auflösung wäre nur
durch eine vollendete Annäherung zum Unendlichen möglich,
welche an sich unmöglich ist: aber sie sind es darum, weil sie
gleich als unendlich gegeben werden. Es sind unendlich viele
Radien eines unendlichen Zirkels, dessen Mittelpunkt gegeben
ist; und so wie der Mittelpunkt gegeben ist, ist ja wohl der
ganze unendliche Zirkel, und die unendlich vielen Radien
desselben gegeben. Der eine Endpunkt derselben liegt freilich
in der Unendlichkeit; aber der andre liegt im Mittelpunkte,
und derselbe ist allen gemein. Der Mittelpunkt ist gegeben;
die Richtung der Linien ist auch gegeben, denn es sollen ge-
rade Linien seyn: also sind alle Radien gegeben (einzelne
Radien aus der unendlichen Anzahl derselben, werden durch
Eindrücke vom Nicht-Ich bestimmt, als wirklich zuziehende;
aber nicht gegeben; gegeben waren sie zugleich mit dem Mittel-
punkte.) Das menschliche Wissen ist den Graden nach unend-
lich, aber der Art nach ist es durch seine Gesetze vollständig
bestimmt, und lässt sich gänzlich erschöpfen.
C 2

Stuffe ſeiner Exiſtenz, ſondern auf allen möglichen und
denkbaren Stuffen derſelben wiſſen könne *).

Dies iſt nur unter folgenden Bedingungen möglich:
zuförderſt, daſs ſich zeigen laſſe, der aufgeſtellte Grund-
ſatz ſei erſchöpft; und dann, es ſei kein anderer Grund-
ſatz möglich, als der aufgeſtellte.

Ein Grundſatz iſt erſchöpft, wenn ein vollſtändiges
Syſtem auf demſelben aufgebaut iſt, d. i., wenn der
Grundſatz nothwendig auf alle aufgeſtellten Sätze führt,
und alle aufgeſtellten Sätze nothwendig wieder auf ihn

zurück-
*) Auf einen möglichen Einwurf, den aber nur ein Popular-
Philoſoph machen könnte! — Die eigentlichen Aufgaben des
menſchlichen Geiſtes ſind freilich, ſo wohl ihrer Anzahl, als
ihrer Ausdehnung nach unendlich; ihre Auflöſung wäre nur
durch eine vollendete Annäherung zum Unendlichen möglich,
welche an ſich unmöglich iſt: aber ſie ſind es darum, weil ſie
gleich als unendlich gegeben werden. Es ſind unendlich viele
Radien eines unendlichen Zirkels, deſſen Mittelpunkt gegeben
iſt; und ſo wie der Mittelpunkt gegeben iſt, iſt ja wohl der
ganze unendliche Zirkel, und die unendlich vielen Radien
deſſelben gegeben. Der eine Endpunkt derſelben liegt freilich
in der Unendlichkeit; aber der andre liegt im Mittelpunkte,
und derſelbe iſt allen gemein. Der Mittelpunkt iſt gegeben;
die Richtung der Linien iſt auch gegeben, denn es ſollen ge-
rade Linien ſeyn: alſo ſind alle Radien gegeben (einzelne
Radien aus der unendlichen Anzahl derſelben, werden durch
Eindrücke vom Nicht-Ich beſtimmt, als wirklich zuziehende;
aber nicht gegeben; gegeben waren ſie zugleich mit dem Mittel-
punkte.) Das menſchliche Wiſſen iſt den Graden nach unend-
lich, aber der Art nach iſt es durch ſeine Geſetze vollſtändig
beſtimmt, und läſst ſich gänzlich erſchöpfen.
C 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0043" n="35"/>
Stuffe &#x017F;einer Exi&#x017F;tenz, &#x017F;ondern auf allen möglichen und<lb/>
denkbaren Stuffen der&#x017F;elben wi&#x017F;&#x017F;en könne <note place="foot" n="*)">Auf einen möglichen Einwurf, den aber nur ein Popular-<lb/>
Philo&#x017F;oph machen könnte! &#x2014; Die eigentlichen Aufgaben des<lb/>
men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;tes &#x017F;ind freilich, &#x017F;o wohl ihrer Anzahl, als<lb/>
ihrer Ausdehnung nach unendlich; ihre Auflö&#x017F;ung wäre nur<lb/>
durch eine vollendete Annäherung zum Unendlichen möglich,<lb/>
welche an &#x017F;ich unmöglich i&#x017F;t: aber &#x017F;ie &#x017F;ind es darum, weil &#x017F;ie<lb/>
gleich <hi rendition="#i">als</hi> unendlich gegeben werden. Es &#x017F;ind unendlich viele<lb/>
Radien eines unendlichen Zirkels, de&#x017F;&#x017F;en Mittelpunkt gegeben<lb/>
i&#x017F;t; und &#x017F;o wie der Mittelpunkt gegeben i&#x017F;t, i&#x017F;t ja wohl der<lb/>
ganze unendliche Zirkel, und die unendlich vielen Radien<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben gegeben. Der eine Endpunkt der&#x017F;elben liegt freilich<lb/>
in der Unendlichkeit; aber der andre liegt im Mittelpunkte,<lb/>
und der&#x017F;elbe i&#x017F;t allen gemein. Der Mittelpunkt i&#x017F;t gegeben;<lb/>
die Richtung der Linien i&#x017F;t auch gegeben, denn es &#x017F;ollen ge-<lb/>
rade Linien &#x017F;eyn: al&#x017F;o &#x017F;ind alle Radien gegeben (einzelne<lb/>
Radien aus der unendlichen Anzahl der&#x017F;elben, werden durch<lb/>
Eindrücke vom Nicht-Ich <hi rendition="#i">be&#x017F;timmt</hi>, als wirklich zuziehende;<lb/>
aber nicht <hi rendition="#i">gegeben; gegeben</hi> waren &#x017F;ie zugleich mit dem Mittel-<lb/>
punkte.) Das men&#x017F;chliche Wi&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t den <hi rendition="#i">Graden</hi> nach unend-<lb/>
lich, aber der <hi rendition="#i">Art</hi> nach i&#x017F;t es durch &#x017F;eine Ge&#x017F;etze voll&#x017F;tändig<lb/>
be&#x017F;timmt, und lä&#x017F;st &#x017F;ich gänzlich er&#x017F;chöpfen.</note>.</p><lb/>
          <p>Dies i&#x017F;t nur unter folgenden Bedingungen möglich:<lb/>
zuförder&#x017F;t, da&#x017F;s &#x017F;ich zeigen la&#x017F;&#x017F;e, der aufge&#x017F;tellte Grund-<lb/>
&#x017F;atz &#x017F;ei er&#x017F;chöpft; und dann, es &#x017F;ei kein anderer Grund-<lb/>
&#x017F;atz möglich, als der aufge&#x017F;tellte.</p><lb/>
          <p>Ein Grund&#x017F;atz i&#x017F;t er&#x017F;chöpft, wenn ein voll&#x017F;tändiges<lb/>
Sy&#x017F;tem auf dem&#x017F;elben aufgebaut i&#x017F;t, d. i., wenn der<lb/>
Grund&#x017F;atz nothwendig auf <hi rendition="#i">alle</hi> aufge&#x017F;tellten Sätze führt,<lb/>
und <hi rendition="#i">alle</hi> aufge&#x017F;tellten Sätze nothwendig wieder auf ihn<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C 2</fw><fw place="bottom" type="catch">zurück-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[35/0043] Stuffe ſeiner Exiſtenz, ſondern auf allen möglichen und denkbaren Stuffen derſelben wiſſen könne *). Dies iſt nur unter folgenden Bedingungen möglich: zuförderſt, daſs ſich zeigen laſſe, der aufgeſtellte Grund- ſatz ſei erſchöpft; und dann, es ſei kein anderer Grund- ſatz möglich, als der aufgeſtellte. Ein Grundſatz iſt erſchöpft, wenn ein vollſtändiges Syſtem auf demſelben aufgebaut iſt, d. i., wenn der Grundſatz nothwendig auf alle aufgeſtellten Sätze führt, und alle aufgeſtellten Sätze nothwendig wieder auf ihn zurück- *) Auf einen möglichen Einwurf, den aber nur ein Popular- Philoſoph machen könnte! — Die eigentlichen Aufgaben des menſchlichen Geiſtes ſind freilich, ſo wohl ihrer Anzahl, als ihrer Ausdehnung nach unendlich; ihre Auflöſung wäre nur durch eine vollendete Annäherung zum Unendlichen möglich, welche an ſich unmöglich iſt: aber ſie ſind es darum, weil ſie gleich als unendlich gegeben werden. Es ſind unendlich viele Radien eines unendlichen Zirkels, deſſen Mittelpunkt gegeben iſt; und ſo wie der Mittelpunkt gegeben iſt, iſt ja wohl der ganze unendliche Zirkel, und die unendlich vielen Radien deſſelben gegeben. Der eine Endpunkt derſelben liegt freilich in der Unendlichkeit; aber der andre liegt im Mittelpunkte, und derſelbe iſt allen gemein. Der Mittelpunkt iſt gegeben; die Richtung der Linien iſt auch gegeben, denn es ſollen ge- rade Linien ſeyn: alſo ſind alle Radien gegeben (einzelne Radien aus der unendlichen Anzahl derſelben, werden durch Eindrücke vom Nicht-Ich beſtimmt, als wirklich zuziehende; aber nicht gegeben; gegeben waren ſie zugleich mit dem Mittel- punkte.) Das menſchliche Wiſſen iſt den Graden nach unend- lich, aber der Art nach iſt es durch ſeine Geſetze vollſtändig beſtimmt, und läſst ſich gänzlich erſchöpfen. C 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794/43
Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794/43>, abgerufen am 24.11.2024.