Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite

übergehen zu lassen, gegen dessen Andrang
wohl gar geflissentlich Auge und Ohr zu ver¬
stopfen, sich dieser Gedankenlosigkeit wohl gar
noch als großer Weisheit zu rühmen, mag an¬
ständig seyn einem Felsen, an den die Meeres¬
wellen schlagen, ohne daß er es fühlt, oder
einem Baumstamme, den Stürme hin und her
reissen, ohne daß er es bemerkt, keinesweges
aber einem denkenden Wesen. -- Selbst das
Schweben in höhern Kreisen des Denkens
spricht nicht los von dieser allgemeinen Ver¬
bindlichkeit, seine Zeit zu verstehen. Alles
höhere muß eingreifen wollen auf seine Weise
in die unmittelbare Gegenwart, und wer wahr¬
haftig in jenem lebt, lebt zugleich auch in der
leztern; lebte er nicht auch in dieser, so wäre
dies der Beweis, daß er auch in jenem nicht
lebte, sondern in ihm nur träumte. Jene
Achtlosigkeit auf das, was unter unsern Au¬
gen vorgeht, und die künstliche Ableitung der
allenfalls entstandenen Aufmerksamkeit auf an¬
dere Gegenstände, wäre das erwünschteste, was
einem Feinde unsrer Selbstständigkeit begegnen
könnte. Ist er sicher, daß wir uns bei keinem
Dinge etwas denken, so kann er eben, wie

uͤbergehen zu laſſen, gegen deſſen Andrang
wohl gar gefliſſentlich Auge und Ohr zu ver¬
ſtopfen, ſich dieſer Gedankenloſigkeit wohl gar
noch als großer Weisheit zu ruͤhmen, mag an¬
ſtaͤndig ſeyn einem Felſen, an den die Meeres¬
wellen ſchlagen, ohne daß er es fuͤhlt, oder
einem Baumſtamme, den Stuͤrme hin und her
reiſſen, ohne daß er es bemerkt, keinesweges
aber einem denkenden Weſen. — Selbſt das
Schweben in hoͤhern Kreiſen des Denkens
ſpricht nicht los von dieſer allgemeinen Ver¬
bindlichkeit, ſeine Zeit zu verſtehen. Alles
hoͤhere muß eingreifen wollen auf ſeine Weiſe
in die unmittelbare Gegenwart, und wer wahr¬
haftig in jenem lebt, lebt zugleich auch in der
leztern; lebte er nicht auch in dieſer, ſo waͤre
dies der Beweis, daß er auch in jenem nicht
lebte, ſondern in ihm nur traͤumte. Jene
Achtloſigkeit auf das, was unter unſern Au¬
gen vorgeht, und die kuͤnſtliche Ableitung der
allenfalls entſtandenen Aufmerkſamkeit auf an¬
dere Gegenſtaͤnde, waͤre das erwuͤnſchteſte, was
einem Feinde unſrer Selbſtſtaͤndigkeit begegnen
koͤnnte. Iſt er ſicher, daß wir uns bei keinem
Dinge etwas denken, ſo kann er eben, wie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0389" n="383"/>
u&#x0364;bergehen zu la&#x017F;&#x017F;en, gegen de&#x017F;&#x017F;en Andrang<lb/>
wohl gar gefli&#x017F;&#x017F;entlich Auge und Ohr zu ver¬<lb/>
&#x017F;topfen, &#x017F;ich die&#x017F;er Gedankenlo&#x017F;igkeit wohl gar<lb/>
noch als großer Weisheit zu ru&#x0364;hmen, mag an¬<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndig &#x017F;eyn einem Fel&#x017F;en, an den die Meeres¬<lb/>
wellen &#x017F;chlagen, ohne daß er es fu&#x0364;hlt, oder<lb/>
einem Baum&#x017F;tamme, den Stu&#x0364;rme hin und her<lb/>
rei&#x017F;&#x017F;en, ohne daß er es bemerkt, keinesweges<lb/>
aber einem denkenden We&#x017F;en. &#x2014; Selb&#x017F;t das<lb/>
Schweben in ho&#x0364;hern Krei&#x017F;en des Denkens<lb/>
&#x017F;pricht nicht los von die&#x017F;er allgemeinen Ver¬<lb/>
bindlichkeit, &#x017F;eine Zeit zu ver&#x017F;tehen. Alles<lb/>
ho&#x0364;here muß eingreifen wollen auf &#x017F;eine Wei&#x017F;e<lb/>
in die unmittelbare Gegenwart, und wer wahr¬<lb/>
haftig in jenem lebt, lebt zugleich auch in der<lb/>
leztern; lebte er nicht auch in die&#x017F;er, &#x017F;o wa&#x0364;re<lb/>
dies der Beweis, daß er auch in jenem nicht<lb/>
lebte, &#x017F;ondern in ihm nur tra&#x0364;umte. Jene<lb/>
Achtlo&#x017F;igkeit auf das, was unter un&#x017F;ern Au¬<lb/>
gen vorgeht, und die ku&#x0364;n&#x017F;tliche Ableitung der<lb/>
allenfalls ent&#x017F;tandenen Aufmerk&#x017F;amkeit auf an¬<lb/>
dere Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde, wa&#x0364;re das erwu&#x0364;n&#x017F;chte&#x017F;te, was<lb/>
einem Feinde un&#x017F;rer Selb&#x017F;t&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit begegnen<lb/>
ko&#x0364;nnte. I&#x017F;t er &#x017F;icher, daß wir uns bei keinem<lb/>
Dinge etwas denken, &#x017F;o kann er eben, wie<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[383/0389] uͤbergehen zu laſſen, gegen deſſen Andrang wohl gar gefliſſentlich Auge und Ohr zu ver¬ ſtopfen, ſich dieſer Gedankenloſigkeit wohl gar noch als großer Weisheit zu ruͤhmen, mag an¬ ſtaͤndig ſeyn einem Felſen, an den die Meeres¬ wellen ſchlagen, ohne daß er es fuͤhlt, oder einem Baumſtamme, den Stuͤrme hin und her reiſſen, ohne daß er es bemerkt, keinesweges aber einem denkenden Weſen. — Selbſt das Schweben in hoͤhern Kreiſen des Denkens ſpricht nicht los von dieſer allgemeinen Ver¬ bindlichkeit, ſeine Zeit zu verſtehen. Alles hoͤhere muß eingreifen wollen auf ſeine Weiſe in die unmittelbare Gegenwart, und wer wahr¬ haftig in jenem lebt, lebt zugleich auch in der leztern; lebte er nicht auch in dieſer, ſo waͤre dies der Beweis, daß er auch in jenem nicht lebte, ſondern in ihm nur traͤumte. Jene Achtloſigkeit auf das, was unter unſern Au¬ gen vorgeht, und die kuͤnſtliche Ableitung der allenfalls entſtandenen Aufmerkſamkeit auf an¬ dere Gegenſtaͤnde, waͤre das erwuͤnſchteſte, was einem Feinde unſrer Selbſtſtaͤndigkeit begegnen koͤnnte. Iſt er ſicher, daß wir uns bei keinem Dinge etwas denken, ſo kann er eben, wie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808/389
Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation. Berlin, 1808, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_reden_1808/389>, abgerufen am 17.05.2024.