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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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daher das Geheimniß der Empfindung. Ein leidender
Gott ist ein empfindender, empfindsamer Gott*). Aber
was der Religion nur Prädicat, das ist in Wahrheit das Subject,
die Sache selbst, das Wesen. Der Satz: Gott ist ein empfin-
dendes Wesen, ist nur die religiöse Periphrase des Satzes:
die Empfindung ist absoluten, göttlichen Wesens. Die
Religion ist nichts andres als das vergegenständlichte Selbst-
bewußtsein des Menschen -- so verschieden daher, als verschie-
den das Selbstbewußtsein des Menschen, d. h. der Gegenstand,
dessen der Mensch sich als seines höchsten Wesens bewußt ist.
Der Mensch hat aber nicht nur das Bewußtsein einer Thätig-
keitsquelle, sondern auch Leidensquelle in sich. Ich empfinde;
und empfinde die Empfindung, nicht blos das Wollen, nicht
blos das Denken, welches nur zu oft im Gegensatze mir mir
und meinen Empfindungen ist, als zu meinem Wesen gehörig,
und obwohl als die Quelle aller Leiden und Schmerzen, doch
zugleich als eine herrliche, göttliche Macht und Vollkommen-
heit. Was wäre der Mensch ohne Empfindung? Sie ist die
musikalische Macht im Menschen. Aber was wäre der Mensch
ohne den Ton? So gut der Mensch einen musikalischen Trieb,
eine innere Nöthigung in sich fühlt, im Tone, im Liede seine
Empfindungen auszuhauchen, so nothwendig strömt er in reli-
giösen Seufzern und Thränen das Wesen der Empfindung als
gegenständliches göttliches Wesen aus.

Die Religion ist die Reflexion, die Spiegelung
des menschlichen Wesens in sich selbst
. Was ist, hat

*) Pati voluit, sagt der "letzte Kirchenvater" der katholische Luther,
der heil. Bernhard (in der cit. Schrift de grad.) pati voluit, ut com-
pati sciret, miser fieri
, ut misereri disceret (Hebrae.
5, 15.)

daher das Geheimniß der Empfindung. Ein leidender
Gott iſt ein empfindender, empfindſamer Gott*). Aber
was der Religion nur Prädicat, das iſt in Wahrheit das Subject,
die Sache ſelbſt, das Weſen. Der Satz: Gott iſt ein empfin-
dendes Weſen, iſt nur die religiöſe Periphraſe des Satzes:
die Empfindung iſt abſoluten, göttlichen Weſens. Die
Religion iſt nichts andres als das vergegenſtändlichte Selbſt-
bewußtſein des Menſchen — ſo verſchieden daher, als verſchie-
den das Selbſtbewußtſein des Menſchen, d. h. der Gegenſtand,
deſſen der Menſch ſich als ſeines höchſten Weſens bewußt iſt.
Der Menſch hat aber nicht nur das Bewußtſein einer Thätig-
keitsquelle, ſondern auch Leidensquelle in ſich. Ich empfinde;
und empfinde die Empfindung, nicht blos das Wollen, nicht
blos das Denken, welches nur zu oft im Gegenſatze mir mir
und meinen Empfindungen iſt, als zu meinem Weſen gehörig,
und obwohl als die Quelle aller Leiden und Schmerzen, doch
zugleich als eine herrliche, göttliche Macht und Vollkommen-
heit. Was wäre der Menſch ohne Empfindung? Sie iſt die
muſikaliſche Macht im Menſchen. Aber was wäre der Menſch
ohne den Ton? So gut der Menſch einen muſikaliſchen Trieb,
eine innere Nöthigung in ſich fühlt, im Tone, im Liede ſeine
Empfindungen auszuhauchen, ſo nothwendig ſtrömt er in reli-
giöſen Seufzern und Thränen das Weſen der Empfindung als
gegenſtändliches göttliches Weſen aus.

Die Religion iſt die Reflexion, die Spiegelung
des menſchlichen Weſens in ſich ſelbſt
. Was iſt, hat

*) Pati voluit, ſagt der „letzte Kirchenvater“ der katholiſche Luther,
der heil. Bernhard (in der cit. Schrift de grad.) pati voluit, ut com-
pati sciret, miser fieri
, ut misereri disceret (Hebrae.
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[68/0086] daher das Geheimniß der Empfindung. Ein leidender Gott iſt ein empfindender, empfindſamer Gott *). Aber was der Religion nur Prädicat, das iſt in Wahrheit das Subject, die Sache ſelbſt, das Weſen. Der Satz: Gott iſt ein empfin- dendes Weſen, iſt nur die religiöſe Periphraſe des Satzes: die Empfindung iſt abſoluten, göttlichen Weſens. Die Religion iſt nichts andres als das vergegenſtändlichte Selbſt- bewußtſein des Menſchen — ſo verſchieden daher, als verſchie- den das Selbſtbewußtſein des Menſchen, d. h. der Gegenſtand, deſſen der Menſch ſich als ſeines höchſten Weſens bewußt iſt. Der Menſch hat aber nicht nur das Bewußtſein einer Thätig- keitsquelle, ſondern auch Leidensquelle in ſich. Ich empfinde; und empfinde die Empfindung, nicht blos das Wollen, nicht blos das Denken, welches nur zu oft im Gegenſatze mir mir und meinen Empfindungen iſt, als zu meinem Weſen gehörig, und obwohl als die Quelle aller Leiden und Schmerzen, doch zugleich als eine herrliche, göttliche Macht und Vollkommen- heit. Was wäre der Menſch ohne Empfindung? Sie iſt die muſikaliſche Macht im Menſchen. Aber was wäre der Menſch ohne den Ton? So gut der Menſch einen muſikaliſchen Trieb, eine innere Nöthigung in ſich fühlt, im Tone, im Liede ſeine Empfindungen auszuhauchen, ſo nothwendig ſtrömt er in reli- giöſen Seufzern und Thränen das Weſen der Empfindung als gegenſtändliches göttliches Weſen aus. Die Religion iſt die Reflexion, die Spiegelung des menſchlichen Weſens in ſich ſelbſt. Was iſt, hat *) Pati voluit, ſagt der „letzte Kirchenvater“ der katholiſche Luther, der heil. Bernhard (in der cit. Schrift de grad.) pati voluit, ut com- pati sciret, miser fieri, ut misereri disceret (Hebrae. 5, 15.)

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/86>, abgerufen am 30.11.2024.