Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

Was nämlich die Religion zum Prädicat macht, Das
dürfen wir nur immer zum Subject, und, was sie zum Sub-
ject
, zum Prädicat machen, also die Orakelsprüche der Reli-
gion umkehren, als contre-veritez auffassen, so haben wir
das Wahre. Gott leidet -- Leiden ist Prädicat -- aber für
die Menschen, für Andere, nicht für sich. Was heißt das auf
Deutsch? nichts andres als: Leiden für Andere ist gött-
lich
*); wer für Andere leidet, seine Seele läßt, handelt gött-
lich, ist den Menschen Gott. Aber leidende, sich selbst auf-
opfernde Liebe ist das höchste Wesen des Herzens. Christus
also das sich selbst gegenständliche Herz -- der Eindruck
und Inhalt seiner Leidensgeschichte ein rein menschlicher. Denn
daß Christus zugleich Gott war, Gott im Sinne der Religion
oder Dogmatik, ist eine vage, nichtige, phantastische Vorstel-
lung. Der positive, reale Eindruck auf Kopf und Herz, der
Eindruck, der allein den objectiven Inhalt in seiner Wahr-
heit
ausdrückt, ist: daß er freiwillig litt, daß er nicht zu leiden
brauchte, wenn er nicht hätte leiden wollen, daß er litt unver-
schuldet, daß er litt für Andere, litt aus freier Liebe. Aber
solches Leiden geht wohl über den gemeinen, aber nicht über
den Menschen an sich, über den wahren Menschen. Denke ich
dagegen zugleich mit diesem menschlichen Leiden den suprana-
turalistischen religiösen oder dogmatischen Inhalt, den leidenden

*) Die Religion spricht durch Exempel. Das Exempel ist das Gesetz
der Religion. Was Christus gethan, ist Gesetz. Christus hat gelitten für
Andere, also sollen wir dasselbe thun..... Quae necessitas fuit ut sic
exinaniret se, sic humiliaret se, sie abbreviaret se Dominus majestatis,
nisi ut vos similiter faciatis? (Bernardus in Die nat. Domini.)

Aber diese Wahrheit negirt die Eifersucht der Religion auf den Menschen,
auf die Moral dadurch wieder, daß sie das Handeln und Leiden für Andere,
für die Menschen nur zu einem Handeln und Leiden für Christus, für Gott
und seine Ehre macht. Doch davon erst später.

Was nämlich die Religion zum Prädicat macht, Das
dürfen wir nur immer zum Subject, und, was ſie zum Sub-
ject
, zum Prädicat machen, alſo die Orakelſprüche der Reli-
gion umkehren, als contre-véritez auffaſſen, ſo haben wir
das Wahre. Gott leidet — Leiden iſt Prädicat — aber für
die Menſchen, für Andere, nicht für ſich. Was heißt das auf
Deutſch? nichts andres als: Leiden für Andere iſt gött-
lich
*); wer für Andere leidet, ſeine Seele läßt, handelt gött-
lich, iſt den Menſchen Gott. Aber leidende, ſich ſelbſt auf-
opfernde Liebe iſt das höchſte Weſen des Herzens. Chriſtus
alſo das ſich ſelbſt gegenſtändliche Herz — der Eindruck
und Inhalt ſeiner Leidensgeſchichte ein rein menſchlicher. Denn
daß Chriſtus zugleich Gott war, Gott im Sinne der Religion
oder Dogmatik, iſt eine vage, nichtige, phantaſtiſche Vorſtel-
lung. Der poſitive, reale Eindruck auf Kopf und Herz, der
Eindruck, der allein den objectiven Inhalt in ſeiner Wahr-
heit
ausdrückt, iſt: daß er freiwillig litt, daß er nicht zu leiden
brauchte, wenn er nicht hätte leiden wollen, daß er litt unver-
ſchuldet, daß er litt für Andere, litt aus freier Liebe. Aber
ſolches Leiden geht wohl über den gemeinen, aber nicht über
den Menſchen an ſich, über den wahren Menſchen. Denke ich
dagegen zugleich mit dieſem menſchlichen Leiden den ſuprana-
turaliſtiſchen religiöſen oder dogmatiſchen Inhalt, den leidenden

*) Die Religion ſpricht durch Exempel. Das Exempel iſt das Geſetz
der Religion. Was Chriſtus gethan, iſt Geſetz. Chriſtus hat gelitten für
Andere, alſo ſollen wir daſſelbe thun..... Quae necessitas fuit ut sic
exinaniret se, sic humiliaret se, sie abbreviaret se Dominus majestatis,
nisi ut vos similiter faciatis? (Bernardus in Die nat. Domini.)

Aber dieſe Wahrheit negirt die Eiferſucht der Religion auf den Menſchen,
auf die Moral dadurch wieder, daß ſie das Handeln und Leiden für Andere,
für die Menſchen nur zu einem Handeln und Leiden für Chriſtus, für Gott
und ſeine Ehre macht. Doch davon erſt ſpäter.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0081" n="63"/>
          <p>Was nämlich die Religion zum <hi rendition="#g">Prädicat</hi> macht, Das<lb/>
dürfen wir nur immer zum <hi rendition="#g">Subject</hi>, und, was &#x017F;ie zum <hi rendition="#g">Sub-<lb/>
ject</hi>, zum <hi rendition="#g">Prädicat</hi> machen, al&#x017F;o die Orakel&#x017F;prüche der Reli-<lb/>
gion <hi rendition="#g">umkehren</hi>, als <hi rendition="#aq">contre-véritez</hi> auffa&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o haben wir<lb/>
das Wahre. Gott leidet &#x2014; Leiden i&#x017F;t Prädicat &#x2014; aber für<lb/>
die Men&#x017F;chen, für Andere, nicht für &#x017F;ich. Was heißt das auf<lb/>
Deut&#x017F;ch? nichts andres als: <hi rendition="#g">Leiden für Andere i&#x017F;t gött-<lb/>
lich</hi> <note place="foot" n="*)">Die Religion &#x017F;pricht durch Exempel. Das Exempel i&#x017F;t das Ge&#x017F;etz<lb/>
der Religion. Was Chri&#x017F;tus gethan, i&#x017F;t Ge&#x017F;etz. Chri&#x017F;tus hat gelitten für<lb/>
Andere, al&#x017F;o &#x017F;ollen wir da&#x017F;&#x017F;elbe thun..... <hi rendition="#aq">Quae necessitas fuit ut sic<lb/>
exinaniret se, sic humiliaret se, sie abbreviaret se Dominus majestatis,<lb/>
nisi ut <hi rendition="#g">vos similiter faciatis</hi>? (Bernardus in Die nat. Domini.)</hi><lb/>
Aber die&#x017F;e Wahrheit negirt die Eifer&#x017F;ucht der Religion auf den Men&#x017F;chen,<lb/>
auf die Moral dadurch wieder, daß &#x017F;ie das Handeln und Leiden für Andere,<lb/>
für die Men&#x017F;chen nur zu einem Handeln und Leiden für Chri&#x017F;tus, für Gott<lb/>
und &#x017F;eine Ehre macht. Doch davon er&#x017F;t &#x017F;päter.</note>; wer für Andere leidet, &#x017F;eine Seele läßt, handelt gött-<lb/>
lich, i&#x017F;t den Men&#x017F;chen Gott. Aber leidende, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t auf-<lb/>
opfernde Liebe i&#x017F;t das höch&#x017F;te We&#x017F;en des Herzens. Chri&#x017F;tus<lb/>
al&#x017F;o das <hi rendition="#g">&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t gegen&#x017F;tändliche Herz</hi> &#x2014; der Eindruck<lb/>
und Inhalt &#x017F;einer Leidensge&#x017F;chichte ein rein men&#x017F;chlicher. Denn<lb/>
daß Chri&#x017F;tus zugleich Gott war, Gott im Sinne der Religion<lb/>
oder Dogmatik, i&#x017F;t eine vage, nichtige, phanta&#x017F;ti&#x017F;che Vor&#x017F;tel-<lb/>
lung. Der po&#x017F;itive, reale Eindruck auf Kopf und Herz, <hi rendition="#g">der</hi><lb/>
Eindruck, der allein den objectiven Inhalt in &#x017F;einer <hi rendition="#g">Wahr-<lb/>
heit</hi> ausdrückt, i&#x017F;t: daß er freiwillig litt, daß er nicht zu leiden<lb/>
brauchte, wenn er nicht hätte leiden wollen, daß er litt unver-<lb/>
&#x017F;chuldet, daß er litt für Andere, litt aus freier Liebe. Aber<lb/>
&#x017F;olches Leiden geht wohl über den gemeinen, aber nicht über<lb/>
den Men&#x017F;chen an &#x017F;ich, über den wahren Men&#x017F;chen. Denke ich<lb/>
dagegen zugleich mit die&#x017F;em men&#x017F;chlichen Leiden den &#x017F;uprana-<lb/>
turali&#x017F;ti&#x017F;chen religiö&#x017F;en oder dogmati&#x017F;chen Inhalt, den leidenden<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[63/0081] Was nämlich die Religion zum Prädicat macht, Das dürfen wir nur immer zum Subject, und, was ſie zum Sub- ject, zum Prädicat machen, alſo die Orakelſprüche der Reli- gion umkehren, als contre-véritez auffaſſen, ſo haben wir das Wahre. Gott leidet — Leiden iſt Prädicat — aber für die Menſchen, für Andere, nicht für ſich. Was heißt das auf Deutſch? nichts andres als: Leiden für Andere iſt gött- lich *); wer für Andere leidet, ſeine Seele läßt, handelt gött- lich, iſt den Menſchen Gott. Aber leidende, ſich ſelbſt auf- opfernde Liebe iſt das höchſte Weſen des Herzens. Chriſtus alſo das ſich ſelbſt gegenſtändliche Herz — der Eindruck und Inhalt ſeiner Leidensgeſchichte ein rein menſchlicher. Denn daß Chriſtus zugleich Gott war, Gott im Sinne der Religion oder Dogmatik, iſt eine vage, nichtige, phantaſtiſche Vorſtel- lung. Der poſitive, reale Eindruck auf Kopf und Herz, der Eindruck, der allein den objectiven Inhalt in ſeiner Wahr- heit ausdrückt, iſt: daß er freiwillig litt, daß er nicht zu leiden brauchte, wenn er nicht hätte leiden wollen, daß er litt unver- ſchuldet, daß er litt für Andere, litt aus freier Liebe. Aber ſolches Leiden geht wohl über den gemeinen, aber nicht über den Menſchen an ſich, über den wahren Menſchen. Denke ich dagegen zugleich mit dieſem menſchlichen Leiden den ſuprana- turaliſtiſchen religiöſen oder dogmatiſchen Inhalt, den leidenden *) Die Religion ſpricht durch Exempel. Das Exempel iſt das Geſetz der Religion. Was Chriſtus gethan, iſt Geſetz. Chriſtus hat gelitten für Andere, alſo ſollen wir daſſelbe thun..... Quae necessitas fuit ut sic exinaniret se, sic humiliaret se, sie abbreviaret se Dominus majestatis, nisi ut vos similiter faciatis? (Bernardus in Die nat. Domini.) Aber dieſe Wahrheit negirt die Eiferſucht der Religion auf den Menſchen, auf die Moral dadurch wieder, daß ſie das Handeln und Leiden für Andere, für die Menſchen nur zu einem Handeln und Leiden für Chriſtus, für Gott und ſeine Ehre macht. Doch davon erſt ſpäter.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/81
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/81>, abgerufen am 02.05.2024.