Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

erste Person der Religion ist. Und nur ohne diesen Termi-
nus medius,
welcher aber der Terminus a quo der Incarna-
tion, erscheint die Incarnation unbegreiflich, mysteriös, "specu-
lativ," während sie im Zusammenhang mit demselben eine sich
von selbst verstehende Folge ist. Die Behauptung daher, daß
die Incarnation eine rein empirische Thatsache sei, von der
man nur aus der Offenbarung Kunde erhalte, ist eine Aeuße-
rung des stupidesten religiösen Materialismus, denn die In-
carnation ist ein Schlußsatz, der auf einer sehr begreiflichen
Prämisse beruht. Aber eben so verkehrt ist es, wenn man aus
puren speculativen, d. i. metaphysischen Gründen die Incar-
nation der kirchlichen, orthodoxen Theologie deduciren will,
denn die Metaphysik gehört nur der ersten Person an, welche
sich nicht incarnirt, keine dramatische Person ist.

Aus diesem Exempel erhellt, wie sich die genetisch-kri-
tische
, die speculativ-rationelle oder speculativ-empirische
Methode, die Methode der pneumatischen Wasserheilkunde, von
der purlautern speculativen Methode unterscheidet. Die gene-
tisch-kritische oder speculativ-rationelle Methode philosophirt
nicht über die Menschwerdung als ein besonderes, stupen-
des
Mysterium, wie die vom mystischen Schein verblendete
Speculation; sie zerstört vielmehr die Illusion, als stecke ein
ganz besondres Geheimniß dahinter, sie kritisirt das Dogma
und reducirt es auf seine natürlichen Elemente, auf seinen
innern Ursprung -- auf die Liebe. Der Mittelpunkt der In-
carnationslehre, des mystischen "Gottmenschen" ist die Liebe
Gottes zum Menschen; inwiefern Gott den Menschen liebt,
Gott an den Menschen denkt, Gott für den Menschen
fürsorgt, ist er schon Mensch
; Gott begibt schon in sich
seiner Gottheit, entäußert, anthropomorphirt sich, indem er liebt.

4*

erſte Perſon der Religion iſt. Und nur ohne dieſen Termi-
nus medius,
welcher aber der Terminus a quo der Incarna-
tion, erſcheint die Incarnation unbegreiflich, myſteriös, „ſpecu-
lativ,“ während ſie im Zuſammenhang mit demſelben eine ſich
von ſelbſt verſtehende Folge iſt. Die Behauptung daher, daß
die Incarnation eine rein empiriſche Thatſache ſei, von der
man nur aus der Offenbarung Kunde erhalte, iſt eine Aeuße-
rung des ſtupideſten religiöſen Materialismus, denn die In-
carnation iſt ein Schlußſatz, der auf einer ſehr begreiflichen
Prämiſſe beruht. Aber eben ſo verkehrt iſt es, wenn man aus
puren ſpeculativen, d. i. metaphyſiſchen Gründen die Incar-
nation der kirchlichen, orthodoxen Theologie deduciren will,
denn die Metaphyſik gehört nur der erſten Perſon an, welche
ſich nicht incarnirt, keine dramatiſche Perſon iſt.

Aus dieſem Exempel erhellt, wie ſich die genetiſch-kri-
tiſche
, die ſpeculativ-rationelle oder ſpeculativ-empiriſche
Methode, die Methode der pneumatiſchen Waſſerheilkunde, von
der purlautern ſpeculativen Methode unterſcheidet. Die gene-
tiſch-kritiſche oder ſpeculativ-rationelle Methode philoſophirt
nicht über die Menſchwerdung als ein beſonderes, ſtupen-
des
Myſterium, wie die vom myſtiſchen Schein verblendete
Speculation; ſie zerſtört vielmehr die Illuſion, als ſtecke ein
ganz beſondres Geheimniß dahinter, ſie kritiſirt das Dogma
und reducirt es auf ſeine natürlichen Elemente, auf ſeinen
innern Urſprung — auf die Liebe. Der Mittelpunkt der In-
carnationslehre, des myſtiſchen „Gottmenſchen“ iſt die Liebe
Gottes zum Menſchen; inwiefern Gott den Menſchen liebt,
Gott an den Menſchen denkt, Gott für den Menſchen
fürſorgt, iſt er ſchon Menſch
; Gott begibt ſchon in ſich
ſeiner Gottheit, entäußert, anthropomorphirt ſich, indem er liebt.

4*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0069" n="51"/><hi rendition="#g">er&#x017F;te</hi> Per&#x017F;on der Religion i&#x017F;t. Und nur <hi rendition="#g">ohne</hi> die&#x017F;en <hi rendition="#aq">Termi-<lb/>
nus medius,</hi> welcher aber der <hi rendition="#aq">Terminus a quo</hi> der Incarna-<lb/>
tion, er&#x017F;cheint die Incarnation unbegreiflich, my&#x017F;teriös, &#x201E;&#x017F;pecu-<lb/>
lativ,&#x201C; während &#x017F;ie im Zu&#x017F;ammenhang mit dem&#x017F;elben eine &#x017F;ich<lb/>
von &#x017F;elb&#x017F;t ver&#x017F;tehende Folge i&#x017F;t. Die Behauptung daher, daß<lb/>
die Incarnation eine rein empiri&#x017F;che That&#x017F;ache &#x017F;ei, von der<lb/>
man nur aus der Offenbarung Kunde erhalte, i&#x017F;t eine Aeuße-<lb/>
rung des <hi rendition="#g">&#x017F;tupide&#x017F;ten</hi> religiö&#x017F;en Materialismus, denn die In-<lb/>
carnation i&#x017F;t ein Schluß&#x017F;atz, der auf einer &#x017F;ehr begreiflichen<lb/>
Prämi&#x017F;&#x017F;e beruht. Aber eben &#x017F;o verkehrt i&#x017F;t es, wenn man aus<lb/>
puren &#x017F;peculativen, d. i. metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Gründen die Incar-<lb/>
nation der kirchlichen, orthodoxen Theologie deduciren will,<lb/>
denn die Metaphy&#x017F;ik gehört nur der er&#x017F;ten Per&#x017F;on an, welche<lb/>
&#x017F;ich nicht incarnirt, keine dramati&#x017F;che Per&#x017F;on i&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Aus die&#x017F;em Exempel erhellt, wie &#x017F;ich die <hi rendition="#g">geneti&#x017F;ch-kri-<lb/>
ti&#x017F;che</hi>, die <hi rendition="#g">&#x017F;peculativ-rationelle</hi> oder &#x017F;peculativ-empiri&#x017F;che<lb/>
Methode, die Methode der pneumati&#x017F;chen Wa&#x017F;&#x017F;erheilkunde, von<lb/>
der purlautern &#x017F;peculativen Methode unter&#x017F;cheidet. Die gene-<lb/>
ti&#x017F;ch-kriti&#x017F;che oder &#x017F;peculativ-rationelle Methode philo&#x017F;ophirt<lb/>
nicht über die Men&#x017F;chwerdung als ein <hi rendition="#g">be&#x017F;onderes, &#x017F;tupen-<lb/>
des</hi> My&#x017F;terium, wie die vom my&#x017F;ti&#x017F;chen Schein verblendete<lb/>
Speculation; &#x017F;ie zer&#x017F;tört vielmehr die Illu&#x017F;ion, als &#x017F;tecke ein<lb/>
ganz be&#x017F;ondres Geheimniß dahinter, &#x017F;ie kriti&#x017F;irt das Dogma<lb/>
und reducirt es auf &#x017F;eine <hi rendition="#g">natürlichen Elemente</hi>, auf &#x017F;einen<lb/>
innern Ur&#x017F;prung &#x2014; auf die <hi rendition="#g">Liebe</hi>. Der Mittelpunkt der In-<lb/>
carnationslehre, des my&#x017F;ti&#x017F;chen &#x201E;<hi rendition="#g">Gottmen&#x017F;chen</hi>&#x201C; i&#x017F;t die Liebe<lb/>
Gottes zum Men&#x017F;chen; <hi rendition="#g">inwiefern Gott den Men&#x017F;chen liebt,<lb/>
Gott an den Men&#x017F;chen denkt, Gott für den Men&#x017F;chen<lb/>
für&#x017F;orgt, i&#x017F;t er &#x017F;chon Men&#x017F;ch</hi>; Gott begibt &#x017F;chon in &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;einer Gottheit, entäußert, anthropomorphirt &#x017F;ich, indem er liebt.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">4*</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0069] erſte Perſon der Religion iſt. Und nur ohne dieſen Termi- nus medius, welcher aber der Terminus a quo der Incarna- tion, erſcheint die Incarnation unbegreiflich, myſteriös, „ſpecu- lativ,“ während ſie im Zuſammenhang mit demſelben eine ſich von ſelbſt verſtehende Folge iſt. Die Behauptung daher, daß die Incarnation eine rein empiriſche Thatſache ſei, von der man nur aus der Offenbarung Kunde erhalte, iſt eine Aeuße- rung des ſtupideſten religiöſen Materialismus, denn die In- carnation iſt ein Schlußſatz, der auf einer ſehr begreiflichen Prämiſſe beruht. Aber eben ſo verkehrt iſt es, wenn man aus puren ſpeculativen, d. i. metaphyſiſchen Gründen die Incar- nation der kirchlichen, orthodoxen Theologie deduciren will, denn die Metaphyſik gehört nur der erſten Perſon an, welche ſich nicht incarnirt, keine dramatiſche Perſon iſt. Aus dieſem Exempel erhellt, wie ſich die genetiſch-kri- tiſche, die ſpeculativ-rationelle oder ſpeculativ-empiriſche Methode, die Methode der pneumatiſchen Waſſerheilkunde, von der purlautern ſpeculativen Methode unterſcheidet. Die gene- tiſch-kritiſche oder ſpeculativ-rationelle Methode philoſophirt nicht über die Menſchwerdung als ein beſonderes, ſtupen- des Myſterium, wie die vom myſtiſchen Schein verblendete Speculation; ſie zerſtört vielmehr die Illuſion, als ſtecke ein ganz beſondres Geheimniß dahinter, ſie kritiſirt das Dogma und reducirt es auf ſeine natürlichen Elemente, auf ſeinen innern Urſprung — auf die Liebe. Der Mittelpunkt der In- carnationslehre, des myſtiſchen „Gottmenſchen“ iſt die Liebe Gottes zum Menſchen; inwiefern Gott den Menſchen liebt, Gott an den Menſchen denkt, Gott für den Menſchen fürſorgt, iſt er ſchon Menſch; Gott begibt ſchon in ſich ſeiner Gottheit, entäußert, anthropomorphirt ſich, indem er liebt. 4*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/69
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/69>, abgerufen am 02.05.2024.