gewußt als ein andres Wesen. Die Liebe ist es nun, welche den Grund, das verborgne Wesen der Religion offen- bart, der Glaube aber, der die bewußte Form constituirt. Die Liebe identificirt den Menschen mit Gott, Gott mit dem Men- schen, darum den Menschen mit dem Menschen; der Glaube trennt Gott vom Menschen, darum den Menschen von dem Menschen; denn Gott ist nichts andres als der mystische Gat- tungsbegriff der Menschheit, die Trennung Gottes vom Menschen daher die Trennung des Menschen vom Menschen, die Auflösung des gemeinschaftlichen Bandes. Durch den Glauben setzt sich die Religion mit der Sittlichkeit, der Ver- nunft, dem einfachen Wahrheitssinn des Menschen in Wider- spruch; durch die Liebe aber setzt sie sich wieder diesem Wider- spruch entgegen. Der Glaube isolirt Gott, er macht ihn zu einem besondern, andern Wesen; die Liebe universalisirt; sie macht Gott zu einem gemeinen Wesen, dessen Liebe eins ist mit der Liebe zum Menschen. Der Glaube entzweit den Men- schen im Innern, mit sich selbst, folglich auch im Aeußern; die Liebe aber ist es, welche die Wunden heilt, die der Glaube in das Herz des Menschen schlägt. Der Glaube macht den Glauben an seinen Gott zu einem Gesetz; die Liebe ist Freiheit, sie verdammt selbst den Atheisten nicht, weil sie selbst atheistisch ist, selbst, wenn auch nicht immer theo- retisch, doch praktisch die Existenz eines besondern, dem Men- schen entgegengesetzten Gottes läugnet. Die Liebe hat Gott in sich, der Glaube außer sich; er entfremdet Gott den Men- schen, er macht ihn zu einem äußerlichen Object.
Der Glaube geht in seiner, ihm wesentlich eingebornen Aeußerlichkeit bis zum äußerlichen Factum, bis zum historischen Glauben fort. Es liegt daher insofern im Wesen des
gewußt als ein andres Weſen. Die Liebe iſt es nun, welche den Grund, das verborgne Weſen der Religion offen- bart, der Glaube aber, der die bewußte Form conſtituirt. Die Liebe identificirt den Menſchen mit Gott, Gott mit dem Men- ſchen, darum den Menſchen mit dem Menſchen; der Glaube trennt Gott vom Menſchen, darum den Menſchen von dem Menſchen; denn Gott iſt nichts andres als der myſtiſche Gat- tungsbegriff der Menſchheit, die Trennung Gottes vom Menſchen daher die Trennung des Menſchen vom Menſchen, die Auflöſung des gemeinſchaftlichen Bandes. Durch den Glauben ſetzt ſich die Religion mit der Sittlichkeit, der Ver- nunft, dem einfachen Wahrheitsſinn des Menſchen in Wider- ſpruch; durch die Liebe aber ſetzt ſie ſich wieder dieſem Wider- ſpruch entgegen. Der Glaube iſolirt Gott, er macht ihn zu einem beſondern, andern Weſen; die Liebe univerſaliſirt; ſie macht Gott zu einem gemeinen Weſen, deſſen Liebe eins iſt mit der Liebe zum Menſchen. Der Glaube entzweit den Men- ſchen im Innern, mit ſich ſelbſt, folglich auch im Aeußern; die Liebe aber iſt es, welche die Wunden heilt, die der Glaube in das Herz des Menſchen ſchlägt. Der Glaube macht den Glauben an ſeinen Gott zu einem Geſetz; die Liebe iſt Freiheit, ſie verdammt ſelbſt den Atheiſten nicht, weil ſie ſelbſt atheiſtiſch iſt, ſelbſt, wenn auch nicht immer theo- retiſch, doch praktiſch die Exiſtenz eines beſondern, dem Men- ſchen entgegengeſetzten Gottes läugnet. Die Liebe hat Gott in ſich, der Glaube außer ſich; er entfremdet Gott den Men- ſchen, er macht ihn zu einem äußerlichen Object.
Der Glaube geht in ſeiner, ihm weſentlich eingebornen Aeußerlichkeit bis zum äußerlichen Factum, bis zum hiſtoriſchen Glauben fort. Es liegt daher inſofern im Weſen des
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gewußt als ein andres Weſen. Die Liebe iſt es nun,
welche den Grund, das verborgne Weſen der Religion offen-
bart, der Glaube aber, der die bewußte Form conſtituirt. Die
Liebe identificirt den Menſchen mit Gott, Gott mit dem Men-
ſchen, darum den Menſchen mit dem Menſchen; der Glaube
trennt Gott vom Menſchen, darum den Menſchen von dem
Menſchen; denn Gott iſt nichts andres als der myſtiſche Gat-
tungsbegriff der Menſchheit, die Trennung Gottes vom
Menſchen daher die Trennung des Menſchen vom Menſchen,
die Auflöſung des gemeinſchaftlichen Bandes. Durch den
Glauben ſetzt ſich die Religion mit der Sittlichkeit, der Ver-
nunft, dem einfachen Wahrheitsſinn des Menſchen in Wider-
ſpruch; durch die Liebe aber ſetzt ſie ſich wieder dieſem Wider-
ſpruch entgegen. Der Glaube iſolirt Gott, er macht ihn zu
einem beſondern, andern Weſen; die Liebe univerſaliſirt; ſie
macht Gott zu einem gemeinen Weſen, deſſen Liebe eins iſt
mit der Liebe zum Menſchen. Der Glaube entzweit den Men-
ſchen im Innern, mit ſich ſelbſt, folglich auch im Aeußern;
die Liebe aber iſt es, welche die Wunden heilt, die der
Glaube in das Herz des Menſchen ſchlägt. Der Glaube
macht den Glauben an ſeinen Gott zu einem Geſetz; die
Liebe iſt Freiheit, ſie verdammt ſelbſt den Atheiſten nicht,
weil ſie ſelbſt atheiſtiſch iſt, ſelbſt, wenn auch nicht immer theo-
retiſch, doch praktiſch die Exiſtenz eines beſondern, dem Men-
ſchen entgegengeſetzten Gottes läugnet. Die Liebe hat Gott
in ſich, der Glaube außer ſich; er entfremdet Gott den Men-
ſchen, er macht ihn zu einem äußerlichen Object.
Der Glaube geht in ſeiner, ihm weſentlich eingebornen
Aeußerlichkeit bis zum äußerlichen Factum, bis zum hiſtoriſchen
Glauben fort. Es liegt daher inſofern im Weſen des
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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/354>, abgerufen am 21.11.2024.
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