näherm Studium in dieser Sprache selbst eure Muttersprache erkennen und finden werdet, daß dieser Esel schon vor Jahr- tausenden die tiefsten Geheimnisse eurer speculativen Weisheit ausgeplaudert hat. Thatsache, meine Herren! ist, um es euch nochmals zu wiederholen, eine Vorstellung, an deren Wahrheit man nicht zweifelt, weil ihr Gegenstand kein Ob- ject der Theorie, sondern des Gemüths ist, welches wünscht, daß ist, was es wünscht, was es glaubt, Thatsache ist, was zu läug- nen verboten ist, wenn auch nicht äußerlich, doch innerlich, That- sache ist jede Möglichkeit, die für Wirklichkeit gilt, jede Vorstellung, die für ihre Zeit, da, wo sie eben Thatsache ist, ein Bedürfniß ausdrückt und eben damit eine nicht überschreitbare Schranke des Geistes ist, Thatsache ist jeder realisirte Wunsch, kurz That- sache ist Alles, was nicht bezweifelt wird, aus dem einfachen Grunde, weil es nicht bezweifelt wird, nicht bezweifelt werden soll.
Das religiöse Gemüth ist, seiner bisher entwickelten Natur zufolge, in der unmittelbaren Gewißheit, daß alle seine un- willkührlichen Selbstaffectionen Eindrücke von Außen, Erschei- nungen eines andern Wesens sind. Das religiöse Gemüth macht sich zu dem leidenden, Gott zu dem handelnden Wesen. Gott ist seine entäußerte Activität, die es nur in- sofern sich wieder aneignet, also indirect, daß es sich zum Ob- ject dieser Activität macht. Gott ist die Activität; aber was ihn zur Thätigkeit bestimmt, was seine Thätigkeit, die zu- vörderst nur Allvermögen, potentia ist, zur wirklichen Thä- tigkeit macht, das eigentliche Motiv, der Grund ist nicht Er -- er braucht nichts für sich, er ist bedürfnißlos -- sondern der Mensch, das religiöse Subject oder Gemüth. Das Gott zur Thätigkeit Bestimmende ist der Mensch; aber zugleich wird wieder der Mensch bestimmt von Gott, er macht sich
näherm Studium in dieſer Sprache ſelbſt eure Mutterſprache erkennen und finden werdet, daß dieſer Eſel ſchon vor Jahr- tauſenden die tiefſten Geheimniſſe eurer ſpeculativen Weisheit ausgeplaudert hat. Thatſache, meine Herren! iſt, um es euch nochmals zu wiederholen, eine Vorſtellung, an deren Wahrheit man nicht zweifelt, weil ihr Gegenſtand kein Ob- ject der Theorie, ſondern des Gemüths iſt, welches wünſcht, daß iſt, was es wünſcht, was es glaubt, Thatſache iſt, was zu läug- nen verboten iſt, wenn auch nicht äußerlich, doch innerlich, That- ſache iſt jede Möglichkeit, die für Wirklichkeit gilt, jede Vorſtellung, die für ihre Zeit, da, wo ſie eben Thatſache iſt, ein Bedürfniß ausdrückt und eben damit eine nicht überſchreitbare Schranke des Geiſtes iſt, Thatſache iſt jeder realiſirte Wunſch, kurz That- ſache iſt Alles, was nicht bezweifelt wird, aus dem einfachen Grunde, weil es nicht bezweifelt wird, nicht bezweifelt werden ſoll.
Das religiöſe Gemüth iſt, ſeiner bisher entwickelten Natur zufolge, in der unmittelbaren Gewißheit, daß alle ſeine un- willkührlichen Selbſtaffectionen Eindrücke von Außen, Erſchei- nungen eines andern Weſens ſind. Das religiöſe Gemüth macht ſich zu dem leidenden, Gott zu dem handelnden Weſen. Gott iſt ſeine entäußerte Activität, die es nur in- ſofern ſich wieder aneignet, alſo indirect, daß es ſich zum Ob- ject dieſer Activität macht. Gott iſt die Activität; aber was ihn zur Thätigkeit beſtimmt, was ſeine Thätigkeit, die zu- vörderſt nur Allvermögen, potentia iſt, zur wirklichen Thä- tigkeit macht, das eigentliche Motiv, der Grund iſt nicht Er — er braucht nichts für ſich, er iſt bedürfnißlos — ſondern der Menſch, das religiöſe Subject oder Gemüth. Das Gott zur Thätigkeit Beſtimmende iſt der Menſch; aber zugleich wird wieder der Menſch beſtimmt von Gott, er macht ſich
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näherm Studium in dieſer Sprache ſelbſt eure Mutterſprache
erkennen und finden werdet, daß dieſer Eſel ſchon vor Jahr-
tauſenden die tiefſten Geheimniſſe eurer ſpeculativen
Weisheit ausgeplaudert hat. Thatſache, meine Herren!
iſt, um es euch nochmals zu wiederholen, eine Vorſtellung, an
deren Wahrheit man nicht zweifelt, weil ihr Gegenſtand kein Ob-
ject der Theorie, ſondern des Gemüths iſt, welches wünſcht, daß
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des Geiſtes iſt, Thatſache iſt jeder realiſirte Wunſch, kurz That-
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Grunde, weil es nicht bezweifelt wird, nicht bezweifelt werden ſoll.
Das religiöſe Gemüth iſt, ſeiner bisher entwickelten Natur
zufolge, in der unmittelbaren Gewißheit, daß alle ſeine un-
willkührlichen Selbſtaffectionen Eindrücke von Außen, Erſchei-
nungen eines andern Weſens ſind. Das religiöſe Gemüth
macht ſich zu dem leidenden, Gott zu dem handelnden
Weſen. Gott iſt ſeine entäußerte Activität, die es nur in-
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— er braucht nichts für ſich, er iſt bedürfnißlos — ſondern
der Menſch, das religiöſe Subject oder Gemüth. Das Gott
zur Thätigkeit Beſtimmende iſt der Menſch; aber zugleich
wird wieder der Menſch beſtimmt von Gott, er macht ſich
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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/298>, abgerufen am 28.11.2024.
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