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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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viduum -- hierin besteht sein Unterschied von dem thieri-
schen -- sich als beschränkt fühlen und erkennen; aber es kann
sich seiner Schranken, seiner Endlichkeit nur bewußt werden,
weil ihm die Vollkommenheit, die Unendlichkeit der Gattung
Gegenstand ist, sei es nun als Gegenstand des Gefühls, oder
des Gewissens, oder des denkenden Bewußtseins. Macht es
gleichwohl seine Schranken zu Schranken der Gattung,
so beruht dieß auf der Täuschung, daß es sich mit der Gat-
tung unmittelbar identificirt -- eine Täuschung, die mit der
Bequemlichkeitsliebe, Trägheit, Eitelkeit und Selbstsucht des
Individuums aufs innigste zusammenhängt. Eine Schranke
nämlich, die ich blos als meine Schranke weiß, demüthigt,
beschämt
und beunruhigt mich. Um mich daher von die-
sem Schamgefühl, von dieser Unruhe zu befreien, mache ich
die Schranken meiner Individualität zu Schranken
des menschlichen Wesens
selbst. Was mir unbegreiflich,
ist auch den Andern unbegreiflich; was soll ich mich weiter
kümmern? es ist ja nicht meine Schuld; es liegt nicht an mei-
nem
Verstande; es liegt am Verstande der Gattung selbst.
Aber es ist Wahn, lächerlicher und zugleich frevelhafter Wahn,
das, was die Natur des Menschen constituirt, das Wesen
der Gattung, welches das absolute Wesen des Individuums
ist, als endlich, als beschränkt zu bestimmen. Jedes Wesen
ist sich selbst genug
. Kein Wesen kann sich d. h. seine
Wesenheit negiren; kein Wesen ist sich selbst ein beschränktes.
Jedes Wesen ist vielmehr in sich und für sich unendlich.
Jede Schranke eines Wesens existirt nur für ein andres
Wesen außer und über ihm. Das Leben der Ephemeren ist
außerordentlich kurz im Vergleich zu länger lebenden Thie-
ren; aber gleichwohl ist für sie dieses kurze Leben so lang, als

viduum — hierin beſteht ſein Unterſchied von dem thieri-
ſchen — ſich als beſchränkt fühlen und erkennen; aber es kann
ſich ſeiner Schranken, ſeiner Endlichkeit nur bewußt werden,
weil ihm die Vollkommenheit, die Unendlichkeit der Gattung
Gegenſtand iſt, ſei es nun als Gegenſtand des Gefühls, oder
des Gewiſſens, oder des denkenden Bewußtſeins. Macht es
gleichwohl ſeine Schranken zu Schranken der Gattung,
ſo beruht dieß auf der Täuſchung, daß es ſich mit der Gat-
tung unmittelbar identificirt — eine Täuſchung, die mit der
Bequemlichkeitsliebe, Trägheit, Eitelkeit und Selbſtſucht des
Individuums aufs innigſte zuſammenhängt. Eine Schranke
nämlich, die ich blos als meine Schranke weiß, demüthigt,
beſchämt
und beunruhigt mich. Um mich daher von die-
ſem Schamgefühl, von dieſer Unruhe zu befreien, mache ich
die Schranken meiner Individualität zu Schranken
des menſchlichen Weſens
ſelbſt. Was mir unbegreiflich,
iſt auch den Andern unbegreiflich; was ſoll ich mich weiter
kümmern? es iſt ja nicht meine Schuld; es liegt nicht an mei-
nem
Verſtande; es liegt am Verſtande der Gattung ſelbſt.
Aber es iſt Wahn, lächerlicher und zugleich frevelhafter Wahn,
das, was die Natur des Menſchen conſtituirt, das Weſen
der Gattung, welches das abſolute Weſen des Individuums
iſt, als endlich, als beſchränkt zu beſtimmen. Jedes Weſen
iſt ſich ſelbſt genug
. Kein Weſen kann ſich d. h. ſeine
Weſenheit negiren; kein Weſen iſt ſich ſelbſt ein beſchränktes.
Jedes Weſen iſt vielmehr in ſich und für ſich unendlich.
Jede Schranke eines Weſens exiſtirt nur für ein andres
Weſen außer und über ihm. Das Leben der Ephemeren iſt
außerordentlich kurz im Vergleich zu länger lebenden Thie-
ren; aber gleichwohl iſt für ſie dieſes kurze Leben ſo lang, als

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[10/0028] viduum — hierin beſteht ſein Unterſchied von dem thieri- ſchen — ſich als beſchränkt fühlen und erkennen; aber es kann ſich ſeiner Schranken, ſeiner Endlichkeit nur bewußt werden, weil ihm die Vollkommenheit, die Unendlichkeit der Gattung Gegenſtand iſt, ſei es nun als Gegenſtand des Gefühls, oder des Gewiſſens, oder des denkenden Bewußtſeins. Macht es gleichwohl ſeine Schranken zu Schranken der Gattung, ſo beruht dieß auf der Täuſchung, daß es ſich mit der Gat- tung unmittelbar identificirt — eine Täuſchung, die mit der Bequemlichkeitsliebe, Trägheit, Eitelkeit und Selbſtſucht des Individuums aufs innigſte zuſammenhängt. Eine Schranke nämlich, die ich blos als meine Schranke weiß, demüthigt, beſchämt und beunruhigt mich. Um mich daher von die- ſem Schamgefühl, von dieſer Unruhe zu befreien, mache ich die Schranken meiner Individualität zu Schranken des menſchlichen Weſens ſelbſt. Was mir unbegreiflich, iſt auch den Andern unbegreiflich; was ſoll ich mich weiter kümmern? es iſt ja nicht meine Schuld; es liegt nicht an mei- nem Verſtande; es liegt am Verſtande der Gattung ſelbſt. Aber es iſt Wahn, lächerlicher und zugleich frevelhafter Wahn, das, was die Natur des Menſchen conſtituirt, das Weſen der Gattung, welches das abſolute Weſen des Individuums iſt, als endlich, als beſchränkt zu beſtimmen. Jedes Weſen iſt ſich ſelbſt genug. Kein Weſen kann ſich d. h. ſeine Weſenheit negiren; kein Weſen iſt ſich ſelbſt ein beſchränktes. Jedes Weſen iſt vielmehr in ſich und für ſich unendlich. Jede Schranke eines Weſens exiſtirt nur für ein andres Weſen außer und über ihm. Das Leben der Ephemeren iſt außerordentlich kurz im Vergleich zu länger lebenden Thie- ren; aber gleichwohl iſt für ſie dieſes kurze Leben ſo lang, als

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/28>, abgerufen am 28.03.2024.