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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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nur die Intelligenz, die Gattung, den Christen das In-
dividuum unsterblich, d. i. göttlich
. Hieraus ergibt sich
von selbst die weitere Differenz zwischen heidnischer und christ-
licher Philosophie.

Der unzweideutigste Ausdruck, das charakteristische Sym-
bolum dieser unmittelbaren Identität der Gattung und Indivi-
dualität im Christenthum ist Christus, der reale Gott der Christen.
Christus ist das Urbild, der existirende Begriff der Menschheit, der
Inbegriff aller moralischen und göttlichen Vollkommenheiten,
mit Ausschluß alles Negativen, reiner, himmlischer, sündloser
Mensch, Gattungsmensch, der Adam Kadmon, aber nicht an-
geschaut als die Totalität der Gattung, der Menschheit,
sondern unmittelbar als Individuum, als eine Person.
Christus, d. h. der christliche, religiöse Christus ist daher nicht
der Mittelpunkt, sondern das Ende der Geschichte. Dieß geht
eben so aus dem Begriffe, als der Historie hervor. Die
Christen erwarteten das Ende der Welt, der Geschichte. Chri-
stus selbst prophezeit in der Bibel, allen Lügen und Sophis-
men unserer Exegeten zum Trotz, klar und deutlich das nahe
Weltende
. Die Geschichte beruht nur auf dem Unterschiede
des Individuums von der Gattung. Wo dieser Unterschied
aufhört, hört die Geschichte auf, geht der Verstand, der Sinn
der Geschichte aus. Es bleibt dem Menschen nichts weiter
übrig, als die Anschauung und Aneignung dieses realisirten
Ideals und der formelle, quantitative Ausbreitungstrieb --
die Predigt, daß Gott erschienen und das Ende der Welt ge-
kommen ist.

Deßwegen, weil die unmittelbare Identität der Gattung
und des Individuums über die Gränzen der Vernunft und
Natur hinausgeht, war es auch ganz natürlich und nothwen-

nur die Intelligenz, die Gattung, den Chriſten das In-
dividuum unſterblich, d. i. göttlich
. Hieraus ergibt ſich
von ſelbſt die weitere Differenz zwiſchen heidniſcher und chriſt-
licher Philoſophie.

Der unzweideutigſte Ausdruck, das charakteriſtiſche Sym-
bolum dieſer unmittelbaren Identität der Gattung und Indivi-
dualität im Chriſtenthum iſt Chriſtus, der reale Gott der Chriſten.
Chriſtus iſt das Urbild, der exiſtirende Begriff der Menſchheit, der
Inbegriff aller moraliſchen und göttlichen Vollkommenheiten,
mit Ausſchluß alles Negativen, reiner, himmliſcher, ſündloſer
Menſch, Gattungsmenſch, der Adam Kadmon, aber nicht an-
geſchaut als die Totalität der Gattung, der Menſchheit,
ſondern unmittelbar als Individuum, als eine Perſon.
Chriſtus, d. h. der chriſtliche, religiöſe Chriſtus iſt daher nicht
der Mittelpunkt, ſondern das Ende der Geſchichte. Dieß geht
eben ſo aus dem Begriffe, als der Hiſtorie hervor. Die
Chriſten erwarteten das Ende der Welt, der Geſchichte. Chri-
ſtus ſelbſt prophezeit in der Bibel, allen Lügen und Sophis-
men unſerer Exegeten zum Trotz, klar und deutlich das nahe
Weltende
. Die Geſchichte beruht nur auf dem Unterſchiede
des Individuums von der Gattung. Wo dieſer Unterſchied
aufhört, hört die Geſchichte auf, geht der Verſtand, der Sinn
der Geſchichte aus. Es bleibt dem Menſchen nichts weiter
übrig, als die Anſchauung und Aneignung dieſes realiſirten
Ideals und der formelle, quantitative Ausbreitungstrieb —
die Predigt, daß Gott erſchienen und das Ende der Welt ge-
kommen iſt.

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und des Individuums über die Gränzen der Vernunft und
Natur hinausgeht, war es auch ganz natürlich und nothwen-

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[204/0222] nur die Intelligenz, die Gattung, den Chriſten das In- dividuum unſterblich, d. i. göttlich. Hieraus ergibt ſich von ſelbſt die weitere Differenz zwiſchen heidniſcher und chriſt- licher Philoſophie. Der unzweideutigſte Ausdruck, das charakteriſtiſche Sym- bolum dieſer unmittelbaren Identität der Gattung und Indivi- dualität im Chriſtenthum iſt Chriſtus, der reale Gott der Chriſten. Chriſtus iſt das Urbild, der exiſtirende Begriff der Menſchheit, der Inbegriff aller moraliſchen und göttlichen Vollkommenheiten, mit Ausſchluß alles Negativen, reiner, himmliſcher, ſündloſer Menſch, Gattungsmenſch, der Adam Kadmon, aber nicht an- geſchaut als die Totalität der Gattung, der Menſchheit, ſondern unmittelbar als Individuum, als eine Perſon. Chriſtus, d. h. der chriſtliche, religiöſe Chriſtus iſt daher nicht der Mittelpunkt, ſondern das Ende der Geſchichte. Dieß geht eben ſo aus dem Begriffe, als der Hiſtorie hervor. Die Chriſten erwarteten das Ende der Welt, der Geſchichte. Chri- ſtus ſelbſt prophezeit in der Bibel, allen Lügen und Sophis- men unſerer Exegeten zum Trotz, klar und deutlich das nahe Weltende. Die Geſchichte beruht nur auf dem Unterſchiede des Individuums von der Gattung. Wo dieſer Unterſchied aufhört, hört die Geſchichte auf, geht der Verſtand, der Sinn der Geſchichte aus. Es bleibt dem Menſchen nichts weiter übrig, als die Anſchauung und Aneignung dieſes realiſirten Ideals und der formelle, quantitative Ausbreitungstrieb — die Predigt, daß Gott erſchienen und das Ende der Welt ge- kommen iſt. Deßwegen, weil die unmittelbare Identität der Gattung und des Individuums über die Gränzen der Vernunft und Natur hinausgeht, war es auch ganz natürlich und nothwen-

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/222>, abgerufen am 27.04.2024.