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[Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin, 1802

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und gelebt, wenn Andere achtzig Jahre geathmet
und kaum fünfe gelebt haben.

Wir haben viel von unserer Zeit verloren,
was wir dem Körper, der an die blinde Natur
gefesselt ist, hingeben mußten; aber noch mehr
haben wir gewonnen. Wir haben manche Stunde
für unsern Geist und unser Herz ungenutzt vor-
übergehen lassen, aber wir haben keinen ganzen
Tag verschwendet. Wir haben nicht täglich neue
Wahrheiten entdeckt, alte Zweifel vernichtet, Tha-
ten des Heroismus und der Seelengröße geübt,
und Anstalten begründet, die auf ganze Menschen-
alter hinaus glückliche und seegensvolle Wirkun-
gen verbreiten; aber wir haben täglich in unse-
rer inneren Geschichte eine Linie gezogen, die einen
Fortschritt bezeichnet, haben mit Besonnenheit
unsre moralische Kraft verstärkt, uns im Guten
fester begründet, und durch unser Beispiel, durch
unsre zur Humanität veredelte Güte, durch ein
herzliches Wort und eine freundliche That, unsern
Kindern, Gattinnen und Freunden die Tugend
liebenswürdiger, und uns selbst achtenswerther
gemacht. So haben wir, unter der Beobachtung
unserer Pflicht, leben, und, was noch mehr ist,
sterben gelernt; und wer diese erhabne Tugend
versteht, dem ist der Tag nicht zu lang, das
Jahr nicht zu kurz, der berechnet sein Leben nicht
nach Zahlen, sondern nach dem selbsterworbenen
Gewinn, den ihm keine Zeit und kein Schicksal
entreißen kann. Der sieht ohne Furcht sein Haar
bleichen, seine Kniee wanken und ohne Zittern

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und gelebt, wenn Andere achtzig Jahre geathmet
und kaum fuͤnfe gelebt haben.

Wir haben viel von unſerer Zeit verloren,
was wir dem Koͤrper, der an die blinde Natur
gefeſſelt iſt, hingeben mußten; aber noch mehr
haben wir gewonnen. Wir haben manche Stunde
fuͤr unſern Geiſt und unſer Herz ungenutzt vor-
uͤbergehen laſſen, aber wir haben keinen ganzen
Tag verſchwendet. Wir haben nicht taͤglich neue
Wahrheiten entdeckt, alte Zweifel vernichtet, Tha-
ten des Heroismus und der Seelengroͤße geuͤbt,
und Anſtalten begruͤndet, die auf ganze Menſchen-
alter hinaus gluͤckliche und ſeegensvolle Wirkun-
gen verbreiten; aber wir haben taͤglich in unſe-
rer inneren Geſchichte eine Linie gezogen, die einen
Fortſchritt bezeichnet, haben mit Beſonnenheit
unſre moraliſche Kraft verſtaͤrkt, uns im Guten
feſter begruͤndet, und durch unſer Beiſpiel, durch
unſre zur Humanitaͤt veredelte Guͤte, durch ein
herzliches Wort und eine freundliche That, unſern
Kindern, Gattinnen und Freunden die Tugend
liebenswuͤrdiger, und uns ſelbſt achtenswerther
gemacht. So haben wir, unter der Beobachtung
unſerer Pflicht, leben, und, was noch mehr iſt,
ſterben gelernt; und wer dieſe erhabne Tugend
verſteht, dem iſt der Tag nicht zu lang, das
Jahr nicht zu kurz, der berechnet ſein Leben nicht
nach Zahlen, ſondern nach dem ſelbſterworbenen
Gewinn, den ihm keine Zeit und kein Schickſal
entreißen kann. Der ſieht ohne Furcht ſein Haar
bleichen, ſeine Kniee wanken und ohne Zittern

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[227/0245] und gelebt, wenn Andere achtzig Jahre geathmet und kaum fuͤnfe gelebt haben. Wir haben viel von unſerer Zeit verloren, was wir dem Koͤrper, der an die blinde Natur gefeſſelt iſt, hingeben mußten; aber noch mehr haben wir gewonnen. Wir haben manche Stunde fuͤr unſern Geiſt und unſer Herz ungenutzt vor- uͤbergehen laſſen, aber wir haben keinen ganzen Tag verſchwendet. Wir haben nicht taͤglich neue Wahrheiten entdeckt, alte Zweifel vernichtet, Tha- ten des Heroismus und der Seelengroͤße geuͤbt, und Anſtalten begruͤndet, die auf ganze Menſchen- alter hinaus gluͤckliche und ſeegensvolle Wirkun- gen verbreiten; aber wir haben taͤglich in unſe- rer inneren Geſchichte eine Linie gezogen, die einen Fortſchritt bezeichnet, haben mit Beſonnenheit unſre moraliſche Kraft verſtaͤrkt, uns im Guten feſter begruͤndet, und durch unſer Beiſpiel, durch unſre zur Humanitaͤt veredelte Guͤte, durch ein herzliches Wort und eine freundliche That, unſern Kindern, Gattinnen und Freunden die Tugend liebenswuͤrdiger, und uns ſelbſt achtenswerther gemacht. So haben wir, unter der Beobachtung unſerer Pflicht, leben, und, was noch mehr iſt, ſterben gelernt; und wer dieſe erhabne Tugend verſteht, dem iſt der Tag nicht zu lang, das Jahr nicht zu kurz, der berechnet ſein Leben nicht nach Zahlen, ſondern nach dem ſelbſterworbenen Gewinn, den ihm keine Zeit und kein Schickſal entreißen kann. Der ſieht ohne Furcht ſein Haar bleichen, ſeine Kniee wanken und ohne Zittern P 2

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Zitationshilfe: [Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin, 1802, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fessler_eleusinien01_1802/245>, abgerufen am 25.11.2024.