mit einer früher ganz unbekannten Schnelligkeit wechselten, bis aus der mittelalterlichen Hose die moderne als Resultat her- vorging.
Das Mittel nun, welches dem gepreßten Körper Luft schaffte und den Drang nach Licht und Freiheit befriedigte, erscheint wie das einfachste und naturgemäßeste von der Welt. Als es gefun- den war, schwanden vor ihm alle die ungenügenden Versuchs- mittel, wie das nackte Bein des Soldaten und die entblößten Kniee der Pilger und ebenso die noch unter dem Einfluß der Sonderlingsgelüste des funfzehnten Jahrhunderts stehenden Zer- schneidungen und Verkleinerungen der Jacke oder des Wammses. Da, wo man sich gehindert fühlte, also an den Gelenken, zu- nächst an den Schultern und Ellbogen und später auch an den Knieen und auf den Hüften, machte man quer oder senkrecht einen oder mehrere Einschnitte neben einander, sodaß die Pres- sung aufhörte und die Glieder sich leicht und bequem bewegen konnten. Am Oberkörper ließ man durch diese Schlitze, wie das ja schon bei dem Ausschneiden der Jacke der Fall gewesen war, das Hemd faltig heraustreten, während man bei den Beinen, da man doch die Blöße verdecken mußte, gar bald sie mit dün- nem, farbigen Stoff, der ebenfalls ein wenig in Falten heraus- treten konnte, unterlegte. So wurde zur lebendigen Zierde, was die einfache Nothwendigkeit geschaffen hatte. Und da die Auf- schlitzung nun Mode wurde, und von den Stellen, wo sie vom Bedürfniß hervorgerufen war, sich auch über andere Theile des Körpers auszubreiten begann und auch das Barett, die Schuhe und selbst die Schaube ergriff, so gerieth sie gewissermaßen in den Strudel der großen allgemeinen Bewegung hinein und fort- gerissen, wuchs sie heran zu einer so üppigen Blüthe, überwu- cherte die ganze deutsche Menschenwelt in einer so alles Maß überschreitenden und zugleich so allgemeinen Weise, daß wir in ihr gradezu das Hauptkennzeichen, den Hauptcharakterzug der Tracht des sechszehnten Jahrhunderts haben, der ihr vor allen übrigen Zeiten eigenthümlich angehört.
Da alle civilisirten Nationen der abendländischen Christenheit
III. Die Neuzeit.
mit einer früher ganz unbekannten Schnelligkeit wechſelten, bis aus der mittelalterlichen Hoſe die moderne als Reſultat her- vorging.
Das Mittel nun, welches dem gepreßten Körper Luft ſchaffte und den Drang nach Licht und Freiheit befriedigte, erſcheint wie das einfachſte und naturgemäßeſte von der Welt. Als es gefun- den war, ſchwanden vor ihm alle die ungenügenden Verſuchs- mittel, wie das nackte Bein des Soldaten und die entblößten Kniee der Pilger und ebenſo die noch unter dem Einfluß der Sonderlingsgelüſte des funfzehnten Jahrhunderts ſtehenden Zer- ſchneidungen und Verkleinerungen der Jacke oder des Wammſes. Da, wo man ſich gehindert fühlte, alſo an den Gelenken, zu- nächſt an den Schultern und Ellbogen und ſpäter auch an den Knieen und auf den Hüften, machte man quer oder ſenkrecht einen oder mehrere Einſchnitte neben einander, ſodaß die Preſ- ſung aufhörte und die Glieder ſich leicht und bequem bewegen konnten. Am Oberkörper ließ man durch dieſe Schlitze, wie das ja ſchon bei dem Ausſchneiden der Jacke der Fall geweſen war, das Hemd faltig heraustreten, während man bei den Beinen, da man doch die Blöße verdecken mußte, gar bald ſie mit dün- nem, farbigen Stoff, der ebenfalls ein wenig in Falten heraus- treten konnte, unterlegte. So wurde zur lebendigen Zierde, was die einfache Nothwendigkeit geſchaffen hatte. Und da die Auf- ſchlitzung nun Mode wurde, und von den Stellen, wo ſie vom Bedürfniß hervorgerufen war, ſich auch über andere Theile des Körpers auszubreiten begann und auch das Barett, die Schuhe und ſelbſt die Schaube ergriff, ſo gerieth ſie gewiſſermaßen in den Strudel der großen allgemeinen Bewegung hinein und fort- geriſſen, wuchs ſie heran zu einer ſo üppigen Blüthe, überwu- cherte die ganze deutſche Menſchenwelt in einer ſo alles Maß überſchreitenden und zugleich ſo allgemeinen Weiſe, daß wir in ihr gradezu das Hauptkennzeichen, den Hauptcharakterzug der Tracht des ſechszehnten Jahrhunderts haben, der ihr vor allen übrigen Zeiten eigenthümlich angehört.
Da alle civiliſirten Nationen der abendländiſchen Chriſtenheit
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III. Die Neuzeit.
mit einer früher ganz unbekannten Schnelligkeit wechſelten, bis
aus der mittelalterlichen Hoſe die moderne als Reſultat her-
vorging.
Das Mittel nun, welches dem gepreßten Körper Luft ſchaffte
und den Drang nach Licht und Freiheit befriedigte, erſcheint wie
das einfachſte und naturgemäßeſte von der Welt. Als es gefun-
den war, ſchwanden vor ihm alle die ungenügenden Verſuchs-
mittel, wie das nackte Bein des Soldaten und die entblößten
Kniee der Pilger und ebenſo die noch unter dem Einfluß der
Sonderlingsgelüſte des funfzehnten Jahrhunderts ſtehenden Zer-
ſchneidungen und Verkleinerungen der Jacke oder des Wammſes.
Da, wo man ſich gehindert fühlte, alſo an den Gelenken, zu-
nächſt an den Schultern und Ellbogen und ſpäter auch an den
Knieen und auf den Hüften, machte man quer oder ſenkrecht
einen oder mehrere Einſchnitte neben einander, ſodaß die Preſ-
ſung aufhörte und die Glieder ſich leicht und bequem bewegen
konnten. Am Oberkörper ließ man durch dieſe Schlitze, wie das
ja ſchon bei dem Ausſchneiden der Jacke der Fall geweſen war,
das Hemd faltig heraustreten, während man bei den Beinen,
da man doch die Blöße verdecken mußte, gar bald ſie mit dün-
nem, farbigen Stoff, der ebenfalls ein wenig in Falten heraus-
treten konnte, unterlegte. So wurde zur lebendigen Zierde, was
die einfache Nothwendigkeit geſchaffen hatte. Und da die Auf-
ſchlitzung nun Mode wurde, und von den Stellen, wo ſie vom
Bedürfniß hervorgerufen war, ſich auch über andere Theile des
Körpers auszubreiten begann und auch das Barett, die Schuhe
und ſelbſt die Schaube ergriff, ſo gerieth ſie gewiſſermaßen in
den Strudel der großen allgemeinen Bewegung hinein und fort-
geriſſen, wuchs ſie heran zu einer ſo üppigen Blüthe, überwu-
cherte die ganze deutſche Menſchenwelt in einer ſo alles Maß
überſchreitenden und zugleich ſo allgemeinen Weiſe, daß wir in
ihr gradezu das Hauptkennzeichen, den Hauptcharakterzug der
Tracht des ſechszehnten Jahrhunderts haben, der ihr vor allen
übrigen Zeiten eigenthümlich angehört.
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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/44>, abgerufen am 16.02.2025.
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