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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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3. Der Naturalismus u. d. Stutzerthum des dreißigjähr. Kriegs.
Statt mit originaler Schöpferkraft die Natur allein zur Führerin
zu nehmen, schlossen sie sich ihren großen Vorgängern an, stell-
ten sie als Muster auf und zogen von ihnen die Regeln ab, die
sie in ein System zusammenbrachten. So schufen sie die erste
akademische Kunst, in deren Wesenheit es lag, daß sie immer
hinter den Vorbildern zurückbleiben mußte und den Schein des
verstandesmäßig Gemachten nicht abzustreifen vermochte. Was
sie erreichten, war zwar größere Einfachheit und Naturwahrheit,
aber ihre Schule verlief sich in Schematismus und Unbedeutend-
heit. Indem aber die Eklektiker einem verstandesmäßig zusam-
mengesetzten Ideal nachstrebten, abseits vom Wege der Natur,
warf die Opposition gegen sie eine Reihe mächtiger begabter
Künstler in das Extrem des Naturalismus. Es waren Michel
Angelo da Caravaggio, Spagnoletto und ihre Nachfolger, welche
die irdischen Leidenschaften walten ließen, die das Heilige durch
ihre Darstellung profanirten und statt des Idealschönen das Häß-
liche, die gemeine Natur feierten.

Ganz anders ging es in den Niederlanden. Hier hatte das
Volk in dem langen Kriege für religiöse und nationale Unab-
hängigkeit einen Lebenskampf durchzumachen gehabt, welcher
einer Wiedergeburt gleich kam; alles Gemachte und Gesuchte,
jede Manier schien abgestreift, der Volksgeist war frei von Be-
fangenheit und vermochte im Einklang mit der Natur und in
ursprünglicher Frische zu empfinden und zu schaffen. Da trat
Rubens auf mit der unversiegbaren Fülle der genialsten Schöpfer-
kraft, erfaßte das Leben, wie es sich im Großen und Kleinen um
ihn bewegte, allseitig und in ursprünglicher Schönheit und wußte
die Gegenstände in gleicher Vielseitigkeit und gleicher Lebensfülle
künstlerisch darzustellen. Er kannte die Höhen und die Tie-
fen, das Erhabene und das Kindliche, das Tragische und das
Komische, den Menschen, die Thierwelt und die unbelebte Natur,
und selbst in dem todten Gegenstand wußte er den Kern, den
Lebensfonds, zu finden und wiederzugeben. So gab es keine
Seite der Geschichte und der Natur, keinen Zweig der Kunst,
den er nicht schöpferisch erfaßte, andern die Bahn weisend. Und

3. Der Naturalismus u. d. Stutzerthum des dreißigjähr. Kriegs.
Statt mit originaler Schöpferkraft die Natur allein zur Führerin
zu nehmen, ſchloſſen ſie ſich ihren großen Vorgängern an, ſtell-
ten ſie als Muſter auf und zogen von ihnen die Regeln ab, die
ſie in ein Syſtem zuſammenbrachten. So ſchufen ſie die erſte
akademiſche Kunſt, in deren Weſenheit es lag, daß ſie immer
hinter den Vorbildern zurückbleiben mußte und den Schein des
verſtandesmäßig Gemachten nicht abzuſtreifen vermochte. Was
ſie erreichten, war zwar größere Einfachheit und Naturwahrheit,
aber ihre Schule verlief ſich in Schematismus und Unbedeutend-
heit. Indem aber die Eklektiker einem verſtandesmäßig zuſam-
mengeſetzten Ideal nachſtrebten, abſeits vom Wege der Natur,
warf die Oppoſition gegen ſie eine Reihe mächtiger begabter
Künſtler in das Extrem des Naturalismus. Es waren Michel
Angelo da Caravaggio, Spagnoletto und ihre Nachfolger, welche
die irdiſchen Leidenſchaften walten ließen, die das Heilige durch
ihre Darſtellung profanirten und ſtatt des Idealſchönen das Häß-
liche, die gemeine Natur feierten.

Ganz anders ging es in den Niederlanden. Hier hatte das
Volk in dem langen Kriege für religiöſe und nationale Unab-
hängigkeit einen Lebenskampf durchzumachen gehabt, welcher
einer Wiedergeburt gleich kam; alles Gemachte und Geſuchte,
jede Manier ſchien abgeſtreift, der Volksgeiſt war frei von Be-
fangenheit und vermochte im Einklang mit der Natur und in
urſprünglicher Friſche zu empfinden und zu ſchaffen. Da trat
Rubens auf mit der unverſiegbaren Fülle der genialſten Schöpfer-
kraft, erfaßte das Leben, wie es ſich im Großen und Kleinen um
ihn bewegte, allſeitig und in urſprünglicher Schönheit und wußte
die Gegenſtände in gleicher Vielſeitigkeit und gleicher Lebensfülle
künſtleriſch darzuſtellen. Er kannte die Höhen und die Tie-
fen, das Erhabene und das Kindliche, das Tragiſche und das
Komiſche, den Menſchen, die Thierwelt und die unbelebte Natur,
und ſelbſt in dem todten Gegenſtand wußte er den Kern, den
Lebensfonds, zu finden und wiederzugeben. So gab es keine
Seite der Geſchichte und der Natur, keinen Zweig der Kunſt,
den er nicht ſchöpferiſch erfaßte, andern die Bahn weiſend. Und

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[171/0183] 3. Der Naturalismus u. d. Stutzerthum des dreißigjähr. Kriegs. Statt mit originaler Schöpferkraft die Natur allein zur Führerin zu nehmen, ſchloſſen ſie ſich ihren großen Vorgängern an, ſtell- ten ſie als Muſter auf und zogen von ihnen die Regeln ab, die ſie in ein Syſtem zuſammenbrachten. So ſchufen ſie die erſte akademiſche Kunſt, in deren Weſenheit es lag, daß ſie immer hinter den Vorbildern zurückbleiben mußte und den Schein des verſtandesmäßig Gemachten nicht abzuſtreifen vermochte. Was ſie erreichten, war zwar größere Einfachheit und Naturwahrheit, aber ihre Schule verlief ſich in Schematismus und Unbedeutend- heit. Indem aber die Eklektiker einem verſtandesmäßig zuſam- mengeſetzten Ideal nachſtrebten, abſeits vom Wege der Natur, warf die Oppoſition gegen ſie eine Reihe mächtiger begabter Künſtler in das Extrem des Naturalismus. Es waren Michel Angelo da Caravaggio, Spagnoletto und ihre Nachfolger, welche die irdiſchen Leidenſchaften walten ließen, die das Heilige durch ihre Darſtellung profanirten und ſtatt des Idealſchönen das Häß- liche, die gemeine Natur feierten. Ganz anders ging es in den Niederlanden. Hier hatte das Volk in dem langen Kriege für religiöſe und nationale Unab- hängigkeit einen Lebenskampf durchzumachen gehabt, welcher einer Wiedergeburt gleich kam; alles Gemachte und Geſuchte, jede Manier ſchien abgeſtreift, der Volksgeiſt war frei von Be- fangenheit und vermochte im Einklang mit der Natur und in urſprünglicher Friſche zu empfinden und zu ſchaffen. Da trat Rubens auf mit der unverſiegbaren Fülle der genialſten Schöpfer- kraft, erfaßte das Leben, wie es ſich im Großen und Kleinen um ihn bewegte, allſeitig und in urſprünglicher Schönheit und wußte die Gegenſtände in gleicher Vielſeitigkeit und gleicher Lebensfülle künſtleriſch darzuſtellen. Er kannte die Höhen und die Tie- fen, das Erhabene und das Kindliche, das Tragiſche und das Komiſche, den Menſchen, die Thierwelt und die unbelebte Natur, und ſelbſt in dem todten Gegenſtand wußte er den Kern, den Lebensfonds, zu finden und wiederzugeben. So gab es keine Seite der Geſchichte und der Natur, keinen Zweig der Kunſt, den er nicht ſchöpferiſch erfaßte, andern die Bahn weiſend. Und

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/183>, abgerufen am 25.11.2024.