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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858.

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II. Das Mittelalter.
die Frauengestalten in Gemäßheit dieser Kleidung schlanker, na-
türlicher und schöner bilden, ist bereits erwähnt. Wie hierin, so
ist der Einfluß des sie umgebenden Lebens auch in der Ausbil-
dung eines reinen Stils im Faltenwurf zu erkennen, welcher die
Plastik dieser Periode vor der frühern und namentlich auch vor
der des funfzehnten Jahrhunderts auszeichnet und sie darin, obwohl
in völlig unabhängiger Weise, der Antike nahe bringt. Die
nächste Umgebung, das Leben selbst bot dem künstlerischen Auge
Muster plastischer Schönheit in Fülle, Muster, die ungezwunge-
ner Weise mit Wahrung aller natürlichen Elasticität des Körpers
die schönen Formen zeigten und zugleich in den sanft geschwun-
genen Linien und dem leichten Fluß des Stoffes das Geheimniß
des edlen Faltenwurfs enthüllten. So ist es kein Wunder, wenn
die plastische Kunst aus der oft abschreckenden Roheit der ältern
Zeit sich in unerwarteter Raschheit zu solcher Höhe entwickelte,
wie sie z. B. die Statuen im Naumburger Dom, die Figuren
der goldenen Pforte zu Freiberg und die klugen und thörichten
Jungfrauen an der Sebalduskirche in Nürnberg bekunden, welche
letzteren insbesondere für den Faltenwurf mustergültig sind. Es
wirkte zu demselben Ziele noch der Umstand mit, daß als herr-
schender Stoff der Kleidung an die Stelle der früher so beliebten
und allgemein getragenen Leinwand die Wolle trat. Feine wol-
lene Stoffe bildeten auch die gewöhnliche Kleidung der vorneh-
men Stände, wenn auch die Dichter ihre Helden und Heldinnen
mit allen Kostbarkeiten von Sammet und Seide zu umhängen
wissen, Kostbarkeiten, die weither über das Mittelmeer aus den
sarazenischen Ländern herbeigeführt wurden. Die schmalen, trock-
nen, parallelen Falten schwanden mit der Leinwand aus dem
Anblick der Menschen und damit auch aus der Kunst, während
mit der Wolle, die je nach ihrer Dicke oder Feinheit großartigen
oder sanften und fließenden Wurf gewährte, auch in dieser Be-
ziehung ein guter Geschmack einkehrte.

Nur langsam folgt die männliche Tracht in ihrer Entwick-
lung der weiblichen. Sie ändert sich dahin, daß sie mehr und
mehr die formlose Weite verliert und sich den Formen des Kör-

II. Das Mittelalter.
die Frauengeſtalten in Gemäßheit dieſer Kleidung ſchlanker, na-
türlicher und ſchöner bilden, iſt bereits erwähnt. Wie hierin, ſo
iſt der Einfluß des ſie umgebenden Lebens auch in der Ausbil-
dung eines reinen Stils im Faltenwurf zu erkennen, welcher die
Plaſtik dieſer Periode vor der frühern und namentlich auch vor
der des funfzehnten Jahrhunderts auszeichnet und ſie darin, obwohl
in völlig unabhängiger Weiſe, der Antike nahe bringt. Die
nächſte Umgebung, das Leben ſelbſt bot dem künſtleriſchen Auge
Muſter plaſtiſcher Schönheit in Fülle, Muſter, die ungezwunge-
ner Weiſe mit Wahrung aller natürlichen Elaſticität des Körpers
die ſchönen Formen zeigten und zugleich in den ſanft geſchwun-
genen Linien und dem leichten Fluß des Stoffes das Geheimniß
des edlen Faltenwurfs enthüllten. So iſt es kein Wunder, wenn
die plaſtiſche Kunſt aus der oft abſchreckenden Roheit der ältern
Zeit ſich in unerwarteter Raſchheit zu ſolcher Höhe entwickelte,
wie ſie z. B. die Statuen im Naumburger Dom, die Figuren
der goldenen Pforte zu Freiberg und die klugen und thörichten
Jungfrauen an der Sebalduskirche in Nürnberg bekunden, welche
letzteren insbeſondere für den Faltenwurf muſtergültig ſind. Es
wirkte zu demſelben Ziele noch der Umſtand mit, daß als herr-
ſchender Stoff der Kleidung an die Stelle der früher ſo beliebten
und allgemein getragenen Leinwand die Wolle trat. Feine wol-
lene Stoffe bildeten auch die gewöhnliche Kleidung der vorneh-
men Stände, wenn auch die Dichter ihre Helden und Heldinnen
mit allen Koſtbarkeiten von Sammet und Seide zu umhängen
wiſſen, Koſtbarkeiten, die weither über das Mittelmeer aus den
ſarazeniſchen Ländern herbeigeführt wurden. Die ſchmalen, trock-
nen, parallelen Falten ſchwanden mit der Leinwand aus dem
Anblick der Menſchen und damit auch aus der Kunſt, während
mit der Wolle, die je nach ihrer Dicke oder Feinheit großartigen
oder ſanften und fließenden Wurf gewährte, auch in dieſer Be-
ziehung ein guter Geſchmack einkehrte.

Nur langſam folgt die männliche Tracht in ihrer Entwick-
lung der weiblichen. Sie ändert ſich dahin, daß ſie mehr und
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[98/0116] II. Das Mittelalter. die Frauengeſtalten in Gemäßheit dieſer Kleidung ſchlanker, na- türlicher und ſchöner bilden, iſt bereits erwähnt. Wie hierin, ſo iſt der Einfluß des ſie umgebenden Lebens auch in der Ausbil- dung eines reinen Stils im Faltenwurf zu erkennen, welcher die Plaſtik dieſer Periode vor der frühern und namentlich auch vor der des funfzehnten Jahrhunderts auszeichnet und ſie darin, obwohl in völlig unabhängiger Weiſe, der Antike nahe bringt. Die nächſte Umgebung, das Leben ſelbſt bot dem künſtleriſchen Auge Muſter plaſtiſcher Schönheit in Fülle, Muſter, die ungezwunge- ner Weiſe mit Wahrung aller natürlichen Elaſticität des Körpers die ſchönen Formen zeigten und zugleich in den ſanft geſchwun- genen Linien und dem leichten Fluß des Stoffes das Geheimniß des edlen Faltenwurfs enthüllten. So iſt es kein Wunder, wenn die plaſtiſche Kunſt aus der oft abſchreckenden Roheit der ältern Zeit ſich in unerwarteter Raſchheit zu ſolcher Höhe entwickelte, wie ſie z. B. die Statuen im Naumburger Dom, die Figuren der goldenen Pforte zu Freiberg und die klugen und thörichten Jungfrauen an der Sebalduskirche in Nürnberg bekunden, welche letzteren insbeſondere für den Faltenwurf muſtergültig ſind. Es wirkte zu demſelben Ziele noch der Umſtand mit, daß als herr- ſchender Stoff der Kleidung an die Stelle der früher ſo beliebten und allgemein getragenen Leinwand die Wolle trat. Feine wol- lene Stoffe bildeten auch die gewöhnliche Kleidung der vorneh- men Stände, wenn auch die Dichter ihre Helden und Heldinnen mit allen Koſtbarkeiten von Sammet und Seide zu umhängen wiſſen, Koſtbarkeiten, die weither über das Mittelmeer aus den ſarazeniſchen Ländern herbeigeführt wurden. Die ſchmalen, trock- nen, parallelen Falten ſchwanden mit der Leinwand aus dem Anblick der Menſchen und damit auch aus der Kunſt, während mit der Wolle, die je nach ihrer Dicke oder Feinheit großartigen oder ſanften und fließenden Wurf gewährte, auch in dieſer Be- ziehung ein guter Geſchmack einkehrte. Nur langſam folgt die männliche Tracht in ihrer Entwick- lung der weiblichen. Sie ändert ſich dahin, daß ſie mehr und mehr die formloſe Weite verliert und ſich den Formen des Kör-

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten01_1858/116>, abgerufen am 20.04.2024.