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Varnhagen von Ense, Karl August: Reiz und Liebe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–79. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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lichste Schadloshaltung verfiel, die ich ihr zu leisten schuldig wäre.

Bei jedem Andern hätte ich keinen Augenblick angestanden, diese Stimmung, sobald sie mir sichtbar geworden wäre, für ein Verliebtsein zu halten, und doch kann ich mich noch jetzt nicht entschließen, meinem damaligen Gefühl den Namen der Liebe zu geben. Es war die sonderbarste Mischung; alle einzelnen Merkmale der Liebe schienen vorhanden zu sein, und nur ihr Wesen fehlte; der wärmste Reiz, die zarteste Innigkeit, die Gewißheit befriedigter Ruhe, die meiner Sehnsucht nach ihrer Gegenwart vorschwebte, alle erregenden Triebfedern eines getroffenen Herzens wirkten und kämpften in mir, und doch war das Herz nicht getroffen, das alte, verödete Herz war noch wie sonst, es war nur umwogt von dem glühenden Morgenrötheschein, den diese himmlische Anmuth umher verbreitet hatte. Daß ich damals nicht ganz aufrichtig mit mir umging und mich zu täuschen suchte, kam daher, daß ich mein Inneres nicht genau erkannte und insgeheim eine neue Liebe fürchtete; hätt' ich die feineren Abschattungen der unendlichen Mannichfaltigkeit von Gefühlen, die unter diesem Namen begriffen sind, sogleich erfaßt, so würde ich mir viele Sorge haben ersparen können!

Die Mißhelligkeit, die sich zwischen uns festgesetzt hatte, wollte lange nicht verschwinden; ich fand mich eifriger, als je, im Schauspiel ein, und regelmäßig

lichste Schadloshaltung verfiel, die ich ihr zu leisten schuldig wäre.

Bei jedem Andern hätte ich keinen Augenblick angestanden, diese Stimmung, sobald sie mir sichtbar geworden wäre, für ein Verliebtsein zu halten, und doch kann ich mich noch jetzt nicht entschließen, meinem damaligen Gefühl den Namen der Liebe zu geben. Es war die sonderbarste Mischung; alle einzelnen Merkmale der Liebe schienen vorhanden zu sein, und nur ihr Wesen fehlte; der wärmste Reiz, die zarteste Innigkeit, die Gewißheit befriedigter Ruhe, die meiner Sehnsucht nach ihrer Gegenwart vorschwebte, alle erregenden Triebfedern eines getroffenen Herzens wirkten und kämpften in mir, und doch war das Herz nicht getroffen, das alte, verödete Herz war noch wie sonst, es war nur umwogt von dem glühenden Morgenrötheschein, den diese himmlische Anmuth umher verbreitet hatte. Daß ich damals nicht ganz aufrichtig mit mir umging und mich zu täuschen suchte, kam daher, daß ich mein Inneres nicht genau erkannte und insgeheim eine neue Liebe fürchtete; hätt' ich die feineren Abschattungen der unendlichen Mannichfaltigkeit von Gefühlen, die unter diesem Namen begriffen sind, sogleich erfaßt, so würde ich mir viele Sorge haben ersparen können!

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[0019] lichste Schadloshaltung verfiel, die ich ihr zu leisten schuldig wäre. Bei jedem Andern hätte ich keinen Augenblick angestanden, diese Stimmung, sobald sie mir sichtbar geworden wäre, für ein Verliebtsein zu halten, und doch kann ich mich noch jetzt nicht entschließen, meinem damaligen Gefühl den Namen der Liebe zu geben. Es war die sonderbarste Mischung; alle einzelnen Merkmale der Liebe schienen vorhanden zu sein, und nur ihr Wesen fehlte; der wärmste Reiz, die zarteste Innigkeit, die Gewißheit befriedigter Ruhe, die meiner Sehnsucht nach ihrer Gegenwart vorschwebte, alle erregenden Triebfedern eines getroffenen Herzens wirkten und kämpften in mir, und doch war das Herz nicht getroffen, das alte, verödete Herz war noch wie sonst, es war nur umwogt von dem glühenden Morgenrötheschein, den diese himmlische Anmuth umher verbreitet hatte. Daß ich damals nicht ganz aufrichtig mit mir umging und mich zu täuschen suchte, kam daher, daß ich mein Inneres nicht genau erkannte und insgeheim eine neue Liebe fürchtete; hätt' ich die feineren Abschattungen der unendlichen Mannichfaltigkeit von Gefühlen, die unter diesem Namen begriffen sind, sogleich erfaßt, so würde ich mir viele Sorge haben ersparen können! Die Mißhelligkeit, die sich zwischen uns festgesetzt hatte, wollte lange nicht verschwinden; ich fand mich eifriger, als je, im Schauspiel ein, und regelmäßig

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Reiz und Liebe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–79. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ense_liebe_1910/19>, abgerufen am 19.04.2024.