Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Berlin, 1834.Aus Wolken, eh' im nächt'gen Land Erwacht die Kreaturen,Langt Gottes Hand, Zieht durch die stillen Fluren Gewaltig die Konturen, Strom, Wald und Felsenwand. Wach' auf, wach' auf! die Lerche ruft, Aurora taucht die StrahlenVerträumt in Duft, Beginnt auf Berg und Thalen, Ringsum ein himmlisch Malen In Meer und Land und Luft. Und durch die Stille, Lichtgeschmückt, Aus wunderbaren LockenEin Engel blickt. -- Da rauscht der Wald erschrocken, Da gehn die Morgenglocken, Die Gipfel stehn verzückt. O lichte Augen, ernst und mild, Ich kann nicht von euch lassen!Bald wieder wild Stürmt's her von Sorg' und Hassen -- Durch die verworrnen Gassen Führ mich, mein göttlich Bild! Fortunat folgte dem Gesange, der von einem ent¬ Aus Wolken, eh' im naͤcht'gen Land Erwacht die Kreaturen,Langt Gottes Hand, Zieht durch die ſtillen Fluren Gewaltig die Konturen, Strom, Wald und Felſenwand. Wach' auf, wach' auf! die Lerche ruft, Aurora taucht die StrahlenVertraͤumt in Duft, Beginnt auf Berg und Thalen, Ringsum ein himmliſch Malen In Meer und Land und Luft. Und durch die Stille, Lichtgeſchmuͤckt, Aus wunderbaren LockenEin Engel blickt. — Da rauſcht der Wald erſchrocken, Da gehn die Morgenglocken, Die Gipfel ſtehn verzuͤckt. O lichte Augen, ernſt und mild, Ich kann nicht von euch laſſen!Bald wieder wild Stuͤrmt's her von Sorg' und Haſſen — Durch die verworrnen Gaſſen Fuͤhr mich, mein goͤttlich Bild! Fortunat folgte dem Geſange, der von einem ent¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0096" n="89"/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l rendition="#et">Aus Wolken, eh' im naͤcht'gen Land</l><lb/> <l>Erwacht die Kreaturen,</l><lb/> <l>Langt Gottes Hand,</l><lb/> <l>Zieht durch die ſtillen Fluren</l><lb/> <l>Gewaltig die Konturen,</l><lb/> <l>Strom, Wald und Felſenwand.</l><lb/> </lg> <lg n="2"> <l rendition="#et">Wach' auf, wach' auf! die Lerche ruft,</l><lb/> <l>Aurora taucht die Strahlen</l><lb/> <l>Vertraͤumt in Duft,</l><lb/> <l>Beginnt auf Berg und Thalen,</l><lb/> <l>Ringsum ein himmliſch Malen</l><lb/> <l>In Meer und Land und Luft.</l><lb/> </lg> <lg n="3"> <l rendition="#et">Und durch die Stille, Lichtgeſchmuͤckt,</l><lb/> <l>Aus wunderbaren Locken</l><lb/> <l>Ein Engel blickt. —</l><lb/> <l>Da rauſcht der Wald erſchrocken,</l><lb/> <l>Da gehn die Morgenglocken,</l><lb/> <l>Die Gipfel ſtehn verzuͤckt.</l><lb/> </lg> <lg n="4"> <l rendition="#et">O lichte Augen, ernſt und mild,</l><lb/> <l>Ich kann nicht von euch laſſen!</l><lb/> <l>Bald wieder wild</l><lb/> <l>Stuͤrmt's her von Sorg' und Haſſen —</l><lb/> <l>Durch die verworrnen Gaſſen</l><lb/> <l>Fuͤhr mich, mein goͤttlich Bild!</l><lb/> </lg> </lg> <p>Fortunat folgte dem Geſange, der von einem ent¬<lb/> fernten Fluͤgel des Schloſſes herzukommen ſchien. Die<lb/> hohe Thuͤr war nur angelehnt, er trat hinein, und be¬<lb/> fand ſich in einer ſchoͤnen, großen Kapelle, die durch<lb/> eine Kuppel erleuchtet wurde. Auf einem Geruͤſte ſtand<lb/> dort ein Maler, welcher in dieſer ſtillen, kuͤhlen Ein¬<lb/> ſamkeit, zwiſchen den von oben einfallenden Morgen¬<lb/> lichtern und den halbvollendeten betenden Geſtalten<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [89/0096]
Aus Wolken, eh' im naͤcht'gen Land
Erwacht die Kreaturen,
Langt Gottes Hand,
Zieht durch die ſtillen Fluren
Gewaltig die Konturen,
Strom, Wald und Felſenwand.
Wach' auf, wach' auf! die Lerche ruft,
Aurora taucht die Strahlen
Vertraͤumt in Duft,
Beginnt auf Berg und Thalen,
Ringsum ein himmliſch Malen
In Meer und Land und Luft.
Und durch die Stille, Lichtgeſchmuͤckt,
Aus wunderbaren Locken
Ein Engel blickt. —
Da rauſcht der Wald erſchrocken,
Da gehn die Morgenglocken,
Die Gipfel ſtehn verzuͤckt.
O lichte Augen, ernſt und mild,
Ich kann nicht von euch laſſen!
Bald wieder wild
Stuͤrmt's her von Sorg' und Haſſen —
Durch die verworrnen Gaſſen
Fuͤhr mich, mein goͤttlich Bild!
Fortunat folgte dem Geſange, der von einem ent¬
fernten Fluͤgel des Schloſſes herzukommen ſchien. Die
hohe Thuͤr war nur angelehnt, er trat hinein, und be¬
fand ſich in einer ſchoͤnen, großen Kapelle, die durch
eine Kuppel erleuchtet wurde. Auf einem Geruͤſte ſtand
dort ein Maler, welcher in dieſer ſtillen, kuͤhlen Ein¬
ſamkeit, zwiſchen den von oben einfallenden Morgen¬
lichtern und den halbvollendeten betenden Geſtalten
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